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Eine Geschichte von Dagmar Leupold

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© Juliane Brückner

Am 9. März fand im Café Lost Weekend eine große Lesung Münchner Autoren statt, bei der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner mitwirkte. Motto des Abends war: „But you’re welcome – eine Initiative gegen Fremdenhass“. Wo sind wir selbst fremd? Wie hängen Fremdsein und Schreiben zusammen? Fragen wie diesen ging vor fast 100 Besuchern eine Reihe namhafter Autoren nach: Steven Uhly, Lena Gorelik, Daniel Jaakov Kühn, Andreas Unger, Sandra Hoffmann, Margarete Moulin, Jürgen Bulla, Katja Huber (der wir auch für Mitschnitt und Nachbearbeitung danken!), Daniel Grohn, Emel Ugurcan, Andrea Heuser und Dagmar Leupold. Es moderierten Maximilian Dorner und Fridolin Schley, für den musikalischen Rahmen sorgte Daniel Grohn.

Wer den Abend verpasst hat – oder ihn auffrischen möchte – kann die Texte im Literaturportal Bayern noch einmal nachlesen und nachhören. Die gesammelten Texte werden im Sommer als Buch im P. Kirchheim Verlag erscheinen.

 

Blaubart unlimited

Von Dagmar Leupold

 

Für unsere Brüder & Schwestern, hieß es. Ich wollte nur Brüder; Schwestern hatte ich schließlich zwei. Und selbst den erwünschten Brüdern gönnte ich nicht einmal die Hälfte dessen, was in den Paketen landete.

In der letzten Schulwoche vor Weihnachten bestand der Deutschunterricht aus Päckchenpacken. Für die Brüder & Schwestern in der Ostzone. Gemeinschaftlich verlud man die hellbraunen Schachteln auf kleine Leiterwagen und zog sie zum Postamt; dort gab man sie unter dem Dirigat der Lehrerin und gänzlich frei von den Schenkenden auszeichnenden Gefühlen (wie zum Beispiel stellvertretende Vorfreude), am Schalter auf. Nichts als bitter gestimmt durch die Gewissheit, in der falschen Hälfte des Landes zu wohnen. Die eigene Adresse war offensichtlich für Wohltaten nicht die richtige.

Den Einkauf für die Päckchen erledigte jede Familie für sich. In der Schule gab es ein paar Ratschläge zum Inhalt wie: keine Toilettenartikel, nicht zu viele Dosen, keine Magazine, keine Bücher. Jeder Schüler musste überdies einen handgeschriebenen Brief beilegen, der mit „Liebe Familie!“ links und „Oberlahnstein, den ...“ rechts oben beginnen sollte. „Schreibt, wer ihr seid und was ihr gern macht“, sagte unsere Lehrerin Frau Kanzenberg. „Seid ganz normal.“

Außerdem wurde uns eingeschärft, dass die Wünsche nur einem schönen Weihnachtsfest gelten durften, nicht einer wiedervereinten Zukunft, echten Wahlen und so fort. Wir wussten ja, dass die Brüder & Schwestern in der Unterdrückung lebten, und sollten sie nicht noch zusätzlich durch unerfüllbare Wünsche bedrücken. Da ich keine genaue Vorstellung von Zukunft, ob wiedervereint oder nicht, und von Wahlen hatte, schien mir diese Vorsichtmaßnahme reichlich dumm. Mir wäre es jedenfalls gleichgültig gewesen, wenn mir jemand zu Weihnachten eine wiedervereinte Zukunft gewünscht hätte, solange im Paket Schokolinsen und Babybelkäse in roter Plastikrinde gewesen wären. Ich schrieb jedes Jahr den gleichen Brief, nur die Schrift besserte sich allmählich.

 

Liebe Familie soundso,

ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest und viel Freude an dem Päckchen. Ich gehe in die Kaiser-Wilhelm-Volksschule und bin sechs (sieben, acht) Jahre alt. Ich mag Pferde und Rollschuhe. Mein Lieblingsessen ist Blumenkohl mit brauner Butter und Kartoffeln. Ich habe zwei Schwestern und einen Wellensittich. Die Stadt, in der ich wohne heißt Oberlahnstein und liegt am Rhein. Wie die Loreley.

Mit freundlichen Grüßen, auch von meiner Familie

Dagmar Leupold.

 

 

Im dritten Jahr veränderte sich das Lieblingsessen zu Makkaroni mit Tomatensauce, ich strich die Loreley und schrieb stattdessen Burg Osterspay. Sonst blieb alles gleich. Dass ich heimlich Kisuaheli lernte, verschwieg ich natürlich. Wie alles andere Wichtige auch. Vielleicht boten diese Briefe den ersten Einblick darein, dass alles stimmen kann und nichts wahr ist.

Der Einkaufstag wurde mit einer Einkaufsliste begonnen; also wesentlich feierlicher als ein üblicher Einkauf für die Familie. Meist war meine Mutter gut gelaunt bei der Vorstellung, Wohltaten in den Korb zu legen und zur Kasse zu tragen. Sie räumte mir deshalb die Freiheit ein, mitzubestimmen. Das ging fast nie gut: Wenn ich zum Beispiel Lachsersatz auswählte, warf sie mir vor, nur das zu nehmen, was ich selbst nicht mochte. Erstens stimmte es nicht, ich mochte Lachsersatz allein schon wegen seiner enorm zuversichtlichen Farbe, und außerdem: Wer konnte denn beurteilen, ob unsere Gaben bei einer Familie landeten, die meine Vorlieben teilte?

Schokolinsen und Babybelkäse lagen also immer im Korb für die Ostzone, und im leer ausgegangenen Westen begriff ich die Bedeutung des Wortes Grausamkeit. Meine Mutter überlegte jedes Jahr beim Kaffee am längsten: Onko auf jeden Fall, nur welchen? Sie entschied sich für den teuersten; wenn schon, denn schon. Für die Koffeinfeinde Kaffee Haag. Dann: Nußaufstrich fürs Brot, Eszettschnitten, Grafschafter Goldsaft  (den Rübensirup gönnte ich den Brüdern & Schwestern von Herzen), Zucker, Mehl, Mon Chéri und Gummibärchen. Thunfisch mit Gemüsebeilage.

Beim Bezahlen wurde die Miene meiner Mutter besorgt, aber sobald sie das Portemonnaie wieder schloss, war dieser Ausdruck verflogen. Nichts, was in dem Korb lag, war für die eigene Familie gedacht, am Jahresende gingen alle Rechnungen auf. Manche der Gaben wurden weihnachtlich verpackt, Mehl und Zucker natürlich nicht, die freien Plätze wurden mit Holzwolle (Zeitungspapier war ja verboten) gestopft und mit Walnüssen. Zuoberst der jeweilige Brief, darüber wieder weihnachtliches Papier, zwei Tannenzweige und ein Blatt mit der Adresse der Familie. Zum Tragen befestigte die Lehrerin einen Holzgriff, damit sah das fertige Paket aus wie die Pakete, die im ersten Schuljahr im Deutschbuch über dem Wort „PAKET“ aufgemalt waren. Es sah aus wie ein Profi.

An den Packtagen wurde das Klassenzimmer zu einer Weihnachtswerkstatt; beim Einwickeln und Schnüren sangen wir Weihnachtslieder.

Es ist für uns eine Zeit angekommen, die bringt uns eine große Freud.

Am Weihnachtsabend dann wieder, und auf den Fensterbänken der zur Straße gewandten Fenster standen kleine Kerzen – solche wie auf Gräbern, mit roter Verschalung –,  die bis zu den Brüdern & Schwestern leuchten sollten. Ich fragte meinen Vater, wo die Ostzone liegt. Er antwortete: „Im Osten, natürlich“, und dann sagte er noch:  „Und in jeder Wohnung“. Ich brauchte eine Erklärung. Die kam eher unwirsch und war nicht hilfreich. Nur haarsträubend. Wie das verschlossene Zimmer im Schloß des Königs Blaubart, sagte er, sei die Ostzone. Das Zimmer gehört dazu und ist doch ein großes Geheimnis, ein gefährliches Geheimnis. Zu dem es einen Schlüssel gibt.

Ich erinnerte mich an das Märchen; ungern, denn ich ängstigte mich vor der Kammer voller Blut. Und wollte die Ostzone ganz bestimmt nicht aufschließen. Aber ich kannte ja jedes Zimmer unserer Wohnung, genauso wie die Besenkammer, den Kohlen- und den Vorratskeller. Die Ausblicke aus allen Fenstern, die Gerüche in allen Räumen.

Dann begriff ich: Räume  Innenräume  Brüder & Schwestern!

Blutsverwandtschaft.

Und fürchtete fortan jedes Zimmer.

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