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17.02.2015, 11:35 Uhr
Jakuba Katalpa
Text & Debatte
Im Juli 2014 trafen sich drei tschechische und drei deutsche AutorInnen in Sulzbach-Rosenberg, um für beide Seiten wichtige Gedächtnis-Orte in der Oberpfalz kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Ihre Texte erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Sulzbach-Rosenberg/OPf.-Austausch]: Wanderung

Stille. Plötzlich, wie ein Aufschrei, inmitten des Waldes ein paar Obstbäume. Ein Kirschbaum, Apfelbäume, Pflaumenbäume; bei der zerfallenden Mauer ein verkrümmter Birnbaum. Sie wachsen hier in einer stillen Harmonie, im dichten Jungholz der vergessene Johannisbeerstrauch und der wilde, verlassene Flieder.

Menschenspuren.

Er nähert sich langsam, Schritt für Schritt, er will sich selbst überlisten und sich an den Namen des Dorfes erinnern, ohne in die Wanderkarte zu schauen, die gefaltet in seiner Tasche steckt. Er atmet hastig, stockend; das Dorf liegt oben am Hang, und dorthin zu kommen hat ihm zu schaffen gemacht, die ganze Zeit hatte er gegen den Gedanken ankämpfen müssen, dass er aufgibt, zurück geht ins Tal und auf den Bus wartet, der ihn wieder zum Hotelzimmer bringt, zu einer Tasse Kaffee mit Morgenzeitung.

Als er dann beim Aufstieg auf die Mauern stieß, die früher die einzelnen Felder voneinander abgrenzten, war er aufgelebt und hatte Mut gefasst; wenn er es bis hinauf schaffen würde, hatte er sich gesagt, wird er sich zu Belohnung eine Zigarette gönnen.

Jetzt steht er an der Stelle, wo früher ein Obstgarten war (an den Namen des Dorfes kann er sich immer noch nicht erinnern), und schaut hinauf in die Baumkronen, der Kirschbaum ist vor ein paar Wochen verblüht, seine Krone ist übersät mit kleinen grünen Kügelchen, ähnlich wie die der Apfelbäume.

Er steht wie erstarrt, hat seine Hand in der Tasche der Windjacke, und erst als er die Zigarettenschachtel ertastet, erinnert er sich, dass er rauchen wollte. Das Feuerzeug macht Klick und mit dem scharfem Geschmack des Tabaks taucht in ihm der Name des Dorfes hoch: Ludwigsbrunn.

***

Für den Weg entlang der Grenze hat er sich gut gerüstet. Die Füße stecken in festen Schuhen, seine Hose ist aus einem supermodernen Stoff; er hat sie in einem dieser hinterwäldlerischen Läden erstanden, die überall aus dem Boden sprießen. Die Jacke hat ihm seine Tochter gekauft, von ihr ist auch das Handy, aber er war nicht in der Lage gewesen, zu erlernen, wie man es bedient. Das einzige, was er sich gemerkt hat, ist, dass er mit ihr verbunden wird, wenn er zwei bestimmte Tasten hintereinander drückt.

Er hat versprochen, dass er sie jeden Abend anruft.

Im Rucksack ist Ersatzkleidung, außerdem Konserven, ein Messer und ein leeres Notizbuch. Seine Papiere sind sorgfältig in eine Plastiktüte gewickelt und liegen ganz zu unterst. Auch sein letztes Buch hat er dabei, ebenjenes, über das die Rezensenten so hergefallen sind. Er ist sich nicht völlig im Klaren, was er damit vorhat: es rituell verbrennen oder vergraben. Er könnte es auch von Grund auf umschreiben oder den Tieren des Waldes am Abend daraus vorlesen, gesetzt den Fall, er sollte welchen begegnen. Der Titel war bezeichnend, „Der Wanderer“, und passte also durchaus zu seinem Fußmarsch. Zunächst hatte es ihn beschwert („Thomas Müller ist übergeschnappt“, hatte einer der Kritiker geschrieben, „was wir in seinem Buch lesen, stammt eher aus der Feder eines selbstverliebten Graphomanen denn eines etablierten Autors“), aber dann hatte er sich an diese Schwere gewöhnt.

In seiner wasserdichten Kleidung und den Bergstiefeln fühlte er sich unantastbar, zugleich eingesponnen, wie eine Larve im Kokon. Er rauchte und tippte die Asche in eine kleine Grube, die er in die Erde gehöhlt hatte; seinen Weg sollten viele dieser kleinen Gräber säumen, in denen eine oder zwei Kippen lagen.

***

Irene Bach, die Tochter von Thomas Müller, sitzt mit der Redakteurin einer Frauenzeitschrift im Restaurant.

„Es fing damit an, dass er die Namen vergessen hat“, sagt sie. „Er hat mich Liesel genannt. Ich dachte, er macht nur Spaß, denn Liesel – so hieß meine Mutter. Es war mir peinlich, ihn danach zu fragen, ich habe es einfach schweigend übergangen. An den Namen meines Mannes und die der Kinder konnte er sich erinnern. Später habe ich aber gemerkt, dass er sie hartnäckig aus dem Gedächtnis hervor gräbt, und dann habe ich die kleinen Zettelchen gefunden, diese selbstklebenden, auf die er sich unsere Namen notiert hatte. Und da war ich auch als Liesel vermerkt. Das hat mich geärgert und ich habe mich dagegen gewehrt. Nenn mich nicht immer Liesel, hab ich ihn angefahren. Und er hat überrascht aufgeschaut und sich entschuldigt. Am Abend tat es mir dann Leid, ich habe ihn angerufen, um die Sache aus der Welt zu schaffen, und er hat gelacht und meinte, ich hätte ihm meinen Standpunkt deutlich zu verstehen gegeben. Das war vor etwa sieben Monaten, im Dezember. Seither ist es kontinuierlich schlimmer geworden.

Irene spricht von ihrem Vater, dem Schriftsteller, der vor zwei Jahren sein letztes Buch veröffentlicht hat.

„Sie haben also erst letzten Dezember gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, sagt die Redakteurin.

„Nein“, Irene schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Wasser. Ihr Blick fällt auf das Diktaphon, das neben dem Schälchen mit den Nüssen blinkt.

„Etwa vor einem Jahr habe ich gesehen, dass er seine Brille und die Seife in den Kühlschrank legt“, sagt sie leise. „Nach jedem Händewaschen hat er die Seife genommen und zum Kühlschrank getragen. Und abends, vor dem Schlafengehen, hat er das Gleiche mit der Brille gemacht.“

Das muss Ihnen doch sehr seltsam vorgekommen sein“, meint die Redakteurin. Sie verwendet denselben Lippenstift wie Irene, Rouge Allure von Chanel; womöglich kauft sie ihn sogar in derselben Drogerie.

„Nein“, sagt Irene. „Ich fand es nicht seltsam. Auffällig schon, aber nicht verdächtig. Ich wusste, dass er an einem Text saß, und wenn Vater etwas in Arbeit hatte, war er immer ein bisschen sonderbar.“

Die Redakteurin nickt, obwohl sie nicht weiß, was Irene genau damit meint. Aber sie geht davon aus, dass es zum guten Ton gehört, die Eigenheiten eines der bekanntesten deutschen Schriftsteller zu kennen.

Irene schweigt einen Moment. Dann nimmt sie eine Nuss und dreht sie in den Fingern.

„Als er den Wanderer schrieb“, sagt sie, „schlief er in Strümpfen, und zwar grundsätzlich in zwei verschiedenen.“

Die Redakteurin lächelt.

„Ich dachte, dass das wieder so etwas ist“, fährt Irene fort. „Wenn ihm die Seife im Kühlschrank helfen sollte, sich zu konzentrieren, warum nicht.“

„Und wann sind Sie darauf gekommen, dass es auch etwas Ernsteres sein könnte?“ fragt die Redakteurin.

Irene lässt die Nuss in das Schälchen zurückfallen.

„Als er vergaß zu schreiben“, sagt sie.

„Eine Schreibblockade?“ fragt die Redakteurin interessiert nach.

Irene nimmt die Speisekarte zur Hand. Ihr Blick gleitet darüber hin und auf einmal wird sie von einer tiefen Trauer erfasst bei dem Gedanken and den Vater, den sie vor zwei Tagen in einem tschechischen Hotel abgesetzt hat. Sie hätte ihm eine solche Unternehmung gar nicht erst erlauben sollen.

„Nein, keine Schreibblockade“, sagt sie. „Er hat einfach vergessen, wie man die Buchstaben schreibt.“

Die Redakteurin kann ihre Überraschung nicht verbergen.

„Die Konsonanten sind ihm teilweise geblieben“, sagt Irene, „aber die Vokale sind völlig weg.“

Sie reicht der Redakteurin die Karte hinüber, und die, noch immer verblüfft, bemerkt beim Entgegennehmen, dass Irene mit dem Fingernagel unwillkürlich eine Rille unter das Essen gezogen hat, das sie bestellen wird. Bachforelle mit Kräuterrahmsoße und Prinzesskartoffeln. Sie bestellt das gleiche, dazu eine weitere Flasche Wein, auf Kosten der Redaktion.

***

Er will nicht auf den Ruinen des Dorfes Mittag machen. Mit raschem Schritt legt er noch etwa einen halben Kilometer zurück, geht durch lichten Laubwald, vorüber am Sockel

eines Marterls, das gusseiserne Kreuz obenauf fehlt, dafür sind unten am Fuß des Sockels die ersten Erdbeeren rot. Er pflückt sich welche in die Hand und schluckt sie hinunter, geht noch ein Stück zu und setzt sich an den Rand des Steiges. Direkt gegenüber steht eine Buche mit gewaltig verzweigter Krone, auf ihrer silbernen Rinde glänzt eine grünweiße Wandermarkierung. Er angelt das Messer hervor, nimmt sich aus dem Päckchen ein paar Scheiben Brot, für einen Augenblick gerät er in Panik. Sein Gemüt ist übersättigt von Eindrücken, er weiß auf einmal nicht mehr, was er wollte, warum er das Taschenmesser in der Hand hält. Da meldet sich sein Magen mit einem Knurren, er kommt zu sich und zieht die Leberwurst und den Käse heraus; schmiert sich ein Brot und pfeift dabei, isst Mittag über der Landkarte, in die er sich noch in Deutschland den Weg eingezeichnet hat.

Satt und zufrieden streckt er sich ins Gras und schließt die Augen. Die Junisonne fällt durch den Filter des Geästs auf seine Lider, es kommt ihm vor, als hätte er sich zwei perlmuttrosene Muscheln auf die Augen gelegt. Er spürt das Blut, das träge durch seine Adern fließt und sein Gehirn umspült (das er sich als bröckelndes Festland vorstellt), er atmet ruhig und langsam und könnte ewig so liegen, hier in der Nähe des untergegangenen Dorfes.

Würde ihn jemand suchen?

Und wieder einige Sekunden Panik. Sein Herz macht einen Sprung, setzt ein, zwei Schläge aus; er kann sich nicht an seinen Namen erinnern, er weiß nicht einmal mehr, ob er Familie hat. Das dauert nur kurz, die Fliege, eben auf seinem Handrücken gelandet, hat noch nicht einmal ihre Flügel zusammengelegt, als das Gedächtnis wiederkehrt. Thomas Müller! Er schreit seinen Namen in die Stille, glücklich, dass er sich erinnert hat.

Noch einen Augenblick ruht er aus. Er rupft mit den Fingern das weiche Gras um sich herum, legt es sich aufs Gesicht und zerbeißt ein paar Halme. Dann breitet er die Landkarte aus, das nächste Dorf, Goldbach, sollte nur fünf Kilometer entfernt sein, drei Kilometer muss er der grünen Markierung folgen, die letzten zwei dann der gelben. Bis dahin will er es noch schaffen, will die Reste des Dorfes besichtigen und dann irgendwo dort sein Nachtlager aufschlagen.

Er schreitet gemächlich voran, eilt nicht. Der Weg ist schmal und schlängelt sich durch Blaubeeren und Heidekraut. Streckenweise ist er mit Schotter und kleinen Steinchen bestreut; immer wieder kommt er an Baumstämmen vorüber, die die Waldarbeiter zum Abtransport bereitgelegt haben.

Kurz vor der Gabelung, wo er die grüne Markierung verlassen muss, um der gelben zu folgen, verspürt er das Bedürfnis, sich zu erleichtern. Er schlägt sich zwischen die Stämme und lässt genüsslich sein Wasser, mit starkem goldenen Strahl.

Die Weggabelung, wo sich ein Tisch mit Bänken und ein Fahrradständer befindet, ist von einer Familie mit zwei Kindern besetzt. Sie beäugen ihn misstrauisch, ein alter Mann allein mitten im Wald ist für sie nicht vertrauenserweckend. Die Landkarte in der Plastikhülle, die um seinen Hals baumelt, lässt ihn aussehen wie den Teilnehmer eines Orientierungslaufs.

Er lächelt der Familie zu und geht weiter, der Weg steigt zwischen Fichten mäßig an.

Die letzten zwei Kilometer schafft er nicht an einem Stück, die Steigung ist stärker, als er erwartet hat. Er rastet auf großen Steinen und später noch einmal auf einer kleinen Lichtung kurz vor dem verlassenen Dorf, das er erreichen will.

Vor dem zweiten Weltkrieg hatte Goldbach über 160 Einwohner, zwei Wirtshäuser, einen Teich und eine Kapelle. Nichts ist geblieben. Der frühere Teich ist unter dem Anflug verlandet. Von der Kapelle steht nur noch eine etwa zwei Meter hohe Mauer.

Hier zündet er sich seine zweite Zigarette an, raucht sie zu Ende, begräbt die Kippe und lehnt sich gegen die Mauer. Er reibt sich die Stirn an den Resten des Verputzes auf, saugt den Duft nach feuchten Ziegeln und Mörtel tief ein. Seine Augen sind geschlossen, er denkt an absolut nichts; sein Kopf ist leergefegt, kein Gedanke, keine Beklemmnis und keine Angst, keine Krankheit.

***

Ein Stück hinter dem Dorf schlägt er sein Lager auf. Er breitet die Plane aus und untersucht den Schlafsack fast eine halbe Stunde, bis er sich in dem komplizierten System der Riemen und Reißverschlüsse endlich zurechtfindet. Zum Abendessen öffnet er sich eine Konserve mit Schweinefleisch, das er kalt ißt; er hat Irene versprochen, kein Feuer zu machen. Er trinkt reichlich Wasser und nimmt sich aus dem Tütchen ein Fruchtbonbon, die Zähne putzt er sich nicht.  Dann schlüpft er in den Schlafsack, in Unterhose und Hemd, und schaut zu, wie die Sonne hinter die Baumkronen sinkt. Er ist gespannt, wie die Nacht hier sein wird – kühl? Voller Tierstimmen? Die größte Angst hat er vor den Insekten. Ihm fällt ein, dass er vergessen hat, sich einzureiben. Also schält er sich wieder hervor, verteilt das penetrante Wässerchen großzügig auf seiner Haut, kehrt in die Wärme des Schlafsacks zurück und schließt seine Augen fest: Als er sie wieder öffnet, herrscht ringsum Dunkel, die Oberfläche des Schlafsacks ist feucht vom Tau und am Himmel glänzen die Sterne; er staunt, ist verzaubert und versucht eine Ordnung darin zu entdecken.

Er schläft unruhig, wacht immer wieder auf und fühlt eine gewisse Scham wegen seines Vordringens in ein unbekanntes Gebiet; es ist Jahrzehnte her, als er das letzte Mal unter freiem Himmel geschlafen hat und inzwischen hat er vergessen, wie schwarz die Nacht draußen sein kann.

***

Das Thema, zu dem sich Irene mit der Redakteurin der Frauenzeitschrift verabredet hatte, sollte die Alzheimersche Krankheit gar nicht berühren. Es war einfach und klar: Leben im Schatten eines berühmten Vaters. Seit Thomas Müller zu den bekanntesten deutschen Autoren zählte, hatte sie sich dazu so häufig äußern müssen, dass das für sie schon Routine war.

Die Krankheit des Vaters aber, von der sie erst seit kurzem weiß, ist für sie eine so neue und so brennende Sorge, dass sie sich nicht vorstellen kann, darüber zu schweigen. Schritt für Schritt rekonstruiert sie für die Redakteurin den bisherigen Verlauf der Erkrankung und wird sich dabei bewusst, dass das, worüber sie spricht (Brille und Seife im Kühlschrank, verwechselte Tage, zuoberst angezogene Unterwäsche), eher komisch als traurig ist; als wäre ihr Vater ein hervorragender Spaßmacher und Komödiant.

„Innerhalb weniger Tage kamen die Konsonanten zurück, er konnte wieder lesen und schreiben“, erzählt sie. „Seither ist nichts ähnlich Gravierendes vorgefallen.“

Man bringt die Gerichte, die beiden Frauen machen sich ans Essen.

„Was meinen denn die Ärzte?“ erkundigt die Redakteurin sich, als sie ihr Besteck beiseite legt. Sie selbst hat keine persönlichen Erfahrungen mit Alzheimer und was Irene erzählt, ist für sie nicht ohne Faszination.

Irene zuckt mit den Achseln.

„Es wird sich verschlimmern“, antwortete sie, „das ist nur eine Frage der Zeit.“

Dann entschuldigt sie sich und geht auf die Toilette. Sie dreht den Wasserhahn auf und stützt sich aufs Becken. Ihre Augen sind gerötet, aber sie weint nicht.

„Vati“, sagt sie.

Bevor sie an den Tisch zurückkehrt, nimmt sie den Lippenstift aus der Tasche und zieht ihre Lippen sorgsam nach.

 ***

Am nächsten Tag verjagt Thomas Müller eine Schlange. Er schlägt sich durch Brombeergestrüpp, als er plötzlich ein scharfes Zischen hört. Auf den Ziegelresten wärmt sich ein schlanker schwarzer Körper. Nur wenig fehlt, und er wäre auf die Schlange getreten. Heftig stampft er auf, um sie zu verjagen und wischt sich mit dem Taschentuch die Stirn. Das Dorf, in dem er sich jetzt befindet, hieß früher Reichenthal. Geblieben sind von ihm ein paar Obstbäume und Mauerreste zwischen verwucherten Feldern.

Er schaut sich die Apfelbäume genauer an, die Äste sind von Moos umhüllt, aber es sind noch immer mustergültige Dreierstämme. Als Thomas klein war, hatte sein Vater sich um die Obstbäume gekümmert, hatte sie im Frühjahr und Herbst beschnitten und eigensinnige Äste mit Steinen beschwert, damit sie sich in der gewünschten Richtung hielten.

Auch in München, wo sie nach dem Krieg hingezogen waren, hatten sie einen kleinen Garten, hinter der Stadt, der Vater fuhr auf dem Fahrrad dorthin.

Thomas muss lächeln. An seinen Vater hat er schon lange nicht mehr gedacht.

Reichenthal verlässt er in heiterer Stimmung. In der Windjacke hat er die Bonbons und das Telefon, mit dem am Abend Irene anrufen wird. Er summt ein Lied vor sich hin, das er im Radio gehört hat, und wenn er sich an die Worte nicht mehr erinnern kann, pfeift er die Melodie. Er fühlt sich jung, bei Kräften und gesund. Die zwei Kilometer bis zu der in der Wanderkarte verzeichneten Gabelung bewältigt er in einem Stück. Er setzt sich, angelt aus dem Rucksack eine Konserve mit Lunchmeat und isst es mit einem Stück Brot. Ihm fehlt der Senf. Es freut ihn, wie leicht sich die nötigen Wörter einstellen: Lunchmeat isst man mit Senf. Pressack mit Zwiebeln. Wellfleisch mit Kren. Kaum zu glauben, dass er in Deutschland manchmal Probleme hat, sich zu erinnern, wozu das Besteck eigentlich da ist. Jetzt, mitten im Wald, hantiert er geradezu bravourös mit Dosenöffner und Taschenmesser. Alles ist, wie es sein soll. Das ist seine Landschaft. Er gehört hierher. Dreißig Kilometer von hier ist er aufgewachsen, die Wälder rundum kennt er wie seine Westentasche.

Er zündet sich eine Zigarette an. Er wird es Irene erzählen, wenn er mit ihr spricht. Hierher zu kommen war das Beste, was er tun konnte. Zurück in die Vergangenheit. Sein Gedächtnis ist wie ein wirres Knäuel; er hat das Ende des Fadens gefunden und beginnt ihn aufzurollen; wer weiß, was ihn am Schluss der Reise erwartet?

Nach dem Essen streckt er sich auf dem Rain aus und lässt sich von der Sonne wärmen.

Er denkt über sein neues Buch nach. Am besten, wenn er das Fiasko mit dem letzten Roman vergisst und sich an etwas Neues macht, mit größerem Geschick. Ausgerechnet jetzt, hier im Wald, verspürt er eine solche Lust zu schreiben. Täte er seinen Mund auf, würden Wörter und Sätze nur so strömen. Seine Gedanken sind schnell, hell.

Unbefleckt.

Fast ist er versucht zu glauben, dass er tatsächlich geheilt ist.

***

Abends, in Embryonallage in den Schafsack gekuschelt, ruft er die einzige Nummer an, die der Speicher seines Handys enthält.

„Was soll ich hier?“ schreit er Irene an, die erschrickt. „Wo hast du mich da hingebracht? Hol mich hier sofort weg!“

Irene versucht ihn zu beruhigen, aber er nimmt sie gar nicht wahr.

„Hier ist es so dunkel“, jammert er. „Ich bin im Wald, hilf mir!“

Schließlich kann Irene ihn überreden, dass er sich aus der kleinen Schachtel im Rucksack zwei Beruhigungstabletten nimmt. Er zerkaut sie und schluckt sie ohne Wasser hinunter. Die Panik flaut ab.

„Du machst einen Ausflug“, sagt Irene. Von dem Zettel, den sie vor sich liegen hat, liest sie ihm die Namen der Dörfer vor, die er besuchen wollte.

„In ein paar Tagen holen wir dich in Inselthal ab“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Oder willst du, dass wir gleich kommen?“

Thomas antwortet nicht. Er weint. Um ihn herum ist Dunkelheit, am Himmel erkennt er den Großen Wagen. Er versteht nicht, warum er im Wald ist und nicht in seinem Bett. Erst als ihm Irene die Namen der verlassenen Dörfer ein zweites Mal vorliest, werden seine Gedanken klarer.

„Inselthal“, wiederholt er, „da bin ich geboren.“

„Ja“, sagt Irene. „Und gerade da willst du hin.“

„Jetzt kann ich nirgends hin“, wendet er ein. „Die Dunkelheit ist viel zu groß.“

„Du musst dich dafür gut ausschlafen“, antwortet Irene. „Wart bis zum Morgen.“

Dann bietet sie ihm noch einmal an, dass sie ihn am nächsten Tag holen, doch er lehnt ab. Er ist müde und bedrückt, das Adrenalin, das ihm gerade noch durch die Adern schoss, wird von den Tabletten unterdrückt. Irenes Stimme erreicht ihn aus der Ferne, aus einer Zeitlosigkeit, mit der er sich jetzt nicht beschäftigen will. Er drückt eine der Tasten auf dem Gerät und Irenes Stimme verstummt. Thomas schiebt das Handy in den Rucksack und wischt sich mit dem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. Er schnäuzt sich. Seine Lider sind schwer, die Zunge starr, allmählich fällt er in den künstlich herbeigeführten Schlaf. Schläft die Nacht durch, verschläft den ganzen nächsten Vormittag. Und erwacht mit ganz und gar leerem, gereinigten Kopf.

***

Als ihm der Arzt erklärte, dass das, was ihn quält, weder Altersdemenz noch Zerstreutheit ist, auf die er als Künstler ein Recht hätte, sondern ein Frühstadium der Alzheimerschen Krankheit, verfiel er in eine Depression. Irene hatte ihn in die Praxis begleitet und dann nach Hause gebracht, hatte in der Küche noch Kaffee gekocht. Und Thomas hatte auf den Stoß Rezepte gestarrt, die der Arzt ihm verschrieben hatte, auf die Broschüre mit den beiden Rentnern, die sich im Arm hielten, er blendend weiße Zähnen, sie graue Dauerwelle –  so standen die beiden auf dem Gipfel eines Berges, wanderbestiefelt und mit Trekking-Stöcken.

Ratgeber für Alzheimerpatienten und ihre Familien, stand auf der Titelseite.

„Erschießen“, sagte er.

„Vati“, hörte er Irene vom Herd her rufen.

Er wusste, dass sie auf dem Rückweg vom Arzt geweint hatte, im Taxi auf dem Beifahrersitz hatten ihre Schultern gebebt, das hatte er von hinten gesehen, mit einem Gefühl schwer zu definierender Genugtuung.

Irene und ihr Bruder beschlossen, die Krankheit so gut es ging zu verzögern. Im Laufe der ersten Wochen überschütteten sie ihn geradezu mit Nahrungsergänzungsmitteln, begleiteten ihn zum Psychiater, der ihm leichte Antidepressiva verschrieb, besorgten ihm einen Heimtrainer. Kaffee und Zigaretten verboten sie ihm. Thomas gehorchte bereitwillig, teils weil die Last, die ihm auf der Brust lag, keine Gegenwehr gestattete, teils weil er wusste, dass dieser Eifer nicht lange vorhalten würde. Und darin irrte er nicht. Nicht lange, und er trank wieder Kaffee, rauchte, und der Heimtrainer, auf dem zu radeln er sich nicht ein einziges Mal hatte zwingen können, ruhte verhüllt in der Zimmerecke.

Irene besuchte ihn jede Woche, ging wachsam durch die ganze Wohnung und kontrollierte, ob auch alles an seinem Platz wäre. Sie bezahlte auch die Sozialassistentin (in seiner Kindheit hätte man Aufwärterin gesagt), die täglich Essen brachte und ihm seine Pillen abzählte. Thomas ging diese Fürsorge gegen den Strich, mit der Zeit lernte er aber sie zu ignorieren. Ihn interessierte nur eines: würde er wieder schreiben können? Ist ein gutes Gedächtnis für einen Schriftsteller unerlässlich?

Dann merkte er, dass ihm nicht nur das Gedächtnis verloren ging, sondern auch die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Das versetzte ihn in solche Erregung, dass er keine Luft mehr bekam. Angestrengt rang er nach Atem, schrie, brüllte das leere Papier vor sich an, das zu füllen ihm nicht mehr gelingen wollte..

Schließlich sank er erschöpft in seinem Stuhl zusammen, saß da, den Kopf in die Hände gestützt.

Er zerfiel. Seine Gedanken fanden keine Stütze mehr im Erinnern, der Verlust des Gedächtnisses hatte sie verlangsamt, gelähmt. Und dennoch war da, wie zum Spott, immer noch ein lichter Streifen, ein kalter Beobachter: ein Zeuge des eigenen Zerfalls.

***

Von Mühlhauseln ist nur der Friedhof geblieben. Als Thomas am Nachmittag ankommt, bemerkt er gleich, dass er nicht alleine ist, zwischen den Gräbern spaziert ein Pärchen im Radfahrdress, beide tragen sie etwas in der Hand. Thomas muss die Augen zusammenkneifen, die untergehende Sonnen blendet, Urnen denkt er, bis er begreift, dass es die Helme der Radler sind.

Der Friedhof ist gut erhalten, die Steinmauer hergerichtet. Neben der Holzpforte steht eine Informationstafel, an der die beiden ihre Fahrräder gelehnt haben. Thomas ist empört, und als er den Friedhof betritt, weicht er dem Mann und der Frau ostentativ aus. Er geht zwischen den Gräbern umher, bleibt ab und zu stehen, um eine Inschrift zu lesen. Bestattet wurde hier vor allem im 19. Jahrhundert und immer wieder trifft man auf ein und dieselben Namen, so dass der Friedhof wie ein Denkmal für eine große weit verzweigte Familie wirkt.

Die Gräber sind gepflegt. Thomas kann sich vorstellen, wie die Nachkommen derjenigen, die hier begraben liegen, regelmäßig hierher aufscheinen, um die Gräber zu betreuen. Seit die deutsch-tschechische Grenze offen ist, strömen Massen deutscher Wanderer hin und her, stürzen sich unersättlich auf jene Orte, die zu verlassen man sie oder ihre Eltern einst gezwungen hat.

Thomas hat nie Sehnsucht nach Rückkehr empfunden. Er war acht Jahre alt, als er mit seinen Eltern und Geschwistern ins Sammellager abgeschoben wurde, und von dort direkt nach München, an eine vom Staub und Rauch der Fabrikschlote grau gewordene Peripherie.

Das war schmerzhaft. Und er hat sich gezwungen, den Schmerz hinunterzuschlucken.

Hat den Ort, wo er früher zu Hause war, vergessen. Hat zumindest gedacht, dass er ihn vergessen hat, bis ihm der Arzt sagte, dass sein Gehirn einem löchrigen Käse gleicht.

Während Irene die Nerven verlor, dachte er an den alten Apfelbaum, der Jahr für Jahr so viele Früchte trug, dass seine Mutter sie nicht alle verarbeiten konnte. Sogar den Duft der Äpfel konnte er schmecken.

Seltsam, dass ihm der Apfelbaum gerade in ebenjenem Moment vor Augen trat, als ihm klar wurde, dass es mit ihm nur noch bergab gehen würde.

Acht Jahre hat er ihn durchs Küchenfenster gesehen, knorrig und zäh. Als sie Inselthal verließen, stand er gerade in Blüte, bot sich scheu und zärtlich den Bienen dar.

Von dem alten Baum war es in der Erinnerung nur ein Schritt in das Dorf, in dem er geboren worden und aufgewachsen war.

Inselthal.

Ostrůvek.

Wieder und wieder sagte er sich den Namen vor.

Die ersten Schritte vor der Schwelle des großen Hauses.

Das Muhen der Kühe im Stall, der Duft der frisch gewaschenen Wäsche, die seine

Mutter auf der Obstwiese zum Bleichen gebreitet hatte.

Die Rose, die sich am Fenster schlang.

Die Grübchen, von Kinderfersen in den Boden gehöhlt, eine Handvoll Schusser mit Regenbogen im Innern.

Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er zurückkehren sollte. Stromaufwärts an den Erinnerungen, dorthin, wo alles begonnen hat.

Er erwähnte es vor Irene, sie war dagegen. Als sie jedoch begriff, dass sie ihn davon nicht würde abbringen können, schlug sie vor, mit ihm zu kommen. Er lehnte ab. Schließlich einigten sie sich darauf, dass er sie jeden Tag anrufen würde.

Er hatte vor, über einige verlassene Dörfer im Grenzgebiet bis nach Inselthal zu wandern. Die Strecke war nicht lang, vielleicht dreißig Kilometer. Dafür würde er, so hat er sich ausgerechnet, eine knappe Woche benötigen.

Es würde sein wie ein Eintauchen in lebendiges Wasser. Er wollte den Spuren seiner Kindheit folgen und unterwegs vielleicht auch über einen nächsten Roman nachdenken. Seinen letzten. Denn Alzheimer ist eine progressive Erkrankung, wie er in dem

Ratgeber mit den lächelnden Rentnern gelesen hatte.

Irene half ihm, den Rucksack zu packen. Konserven, zwei Flaschen Wasser,

Beruhigungstabletten. Eine Tüte Bonbons, eine Tafel Schokolade und die Wanderkarte, auf der er sich den Weg mit dicken Filzstift markiert hatte. Das erniedrigende Schildchen (sie hatte es laminieren lassen), auf dem in Druckbuchstaben sein Name stand, ein Hinweis auf seine Erkrankung und Irenes Terlefonnummer.

Er musste ihr schwören, es immer bei sich zu tragen, versprechen, langsam zu gehen und oft zu pausieren.

Sie brachte ihn in die Stadt am Rand des Böhmerwaldes, wo er in einem kleinen Hotel

übernachtete. Am nächsten Tag fuhr er mit dem Bus in das Tal, wo die Wanderwege begannen. Er war heiter gestimmt und ein klein wenig unsicher; in der Tiefe seiner Seele machte er sich Hoffnungen, dass seine Wanderung wie ein Zauber wirkt, dass die vertrauten Orte, die er nach so vielen Jahren wieder sehen würde, wie Flicken wären, dass sie die Lücken füllen würden, die die toten Neuronen in seinem Hirn hinterlassen hatten, und er könnte wieder schreiben, mit gesunden Kopf, unberührten Gedanken, mit der frischen Gier eines Kindes.

***

Die Radler sind tatsächlich aus Deutschland, wie er feststellen kann, als er vorsichtig näher kommt und sie reden hört. Er wendet sich ab, aber es ist zu spät, sie haben ihn bemerkt und versuchen, sich mit ihm in gebrochenem Tschechisch zu verständigen. Er antwortet unwirsch, sie freuen sich, dass er auch Deutscher ist, fragen, wohin sein Weg führt und loben das Wetter. Die Frau ist groß, sie hat einen mächtigen, von der Sonne geröteten Nacken und einen breiten Mund, sie kommt aus Bayern und teilt ihm ungefragt mit, dass auf dem Friedhof hier die Eltern ihres Vaters begraben liegen. Sie führt ihn sogar ans Grab, ist stolz darauf, wie gut es erhalten ist.

Thomas ringt sich ein paar bewundernde Worte ab und ist erleichtert, als die beiden wieder aufs Rad steigen. Sie winken ihm zu und machen sich auf den Weg. Er setzt sich auf die Steinumrandung und angelt eine Schokolade aus dem Rucksack, isst sie ganz auf, zieht das Handy heraus und ruft Irene an.

***

Irene ist unruhig wegen des Interviews, dass sie der Redakteurin der Frauenzeitschrift gegeben hat. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie so offen war, und fürchtet, sie könnte ihren Vater der Lächerlichkeit preisgegeben haben.

Als Irene von der Krankheit erfuhr, wurde sie von einer Vielzahl verschiedener Ängste überfallen, die schließlich in eine einzige große Angst zusammenflossen: wann würde ihr Vater sich in einen Unbekannten verwandelt haben? Wann würde seine Pflege so anstrengend werden, dass man nicht umhin käme, ihn in einem Heim unterzubringen?

Irene sitzt im Büro, aber sie kann sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Sie denkt an den Vater, der jetzt, jenseits der Grenze, durch den Wald wandert. Sie ahnt nicht, dass er genau das ihre ganze Kindheit über getan hat, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer einschloss. Sie kennt ihn nur aus den Büchern, die er geschrieben hat und die so vielschichtig sind, dass sie über ihn eigentlich gar nichts Genaues weiß.

Abend für Abend verbringt sie am Telefon und wartet auf seinen Anruf. In der Stimme, die sich im Hörer meldet, sucht sie nach Spuren der Krankheit. Und wenn der Vater das Gespräch beendet, bleibt Irene sitzen, mit dem Hörer im Schoß, und beißt sich auf die Lippe. So viel möchte sie ihm sagen, aber nie lässt er sie zu Wort kommen.

So weit ist er von ihr weg.

***

Das letzte Dorf vor Ostrůvek, vor Insethal, ist St. Katharina. Wie in den Dörfern zuvor, sind auch hier die Ruinen von Dickicht überwuchert. Thomas geht langsam auf dem schmalen Pfad voran. Er erinnert sich, dass Kinder aus St. Katharina zu ihm in die Klasse gingen. Ein Holzkreuz bezeichnet die Stelle, wo früher die Kirche stand.

Thomas hat Lust zu rauchen, aber er will es nicht neben dem Kreuz tun. Er geht ein paar Schritte beiseite und setzt sich an den Wegrand, dann erst zündet er die Zigarette an. Er genießt die Stille und die Einsamkeit. Er denkt an Irene, an die Rezensionen seines letzten Buches. Als er es vor zwei Jahren beendet hat, wollte er ausruhen und erst später, nach einigen Jahren, zum Schreiben zurückzukehren. Hätte er an diesem Plan etwas geändert, wenn er gewusst hätte, dass er erkranken wird? War ein Tag, an dem er gesund war und nicht schrieb, ein verlorener Tag?

Thomas drückt die Kippe aus und schiebt sie in die Tasche. Irgendwo im Wald ruft lauthals ein Vogel. Thomas lauscht aufmerksam. Früher einmal hatte er sich gewünscht, die Namen aller Vögel und Pflanzen zu kennen.

Früher wollte er alles wissen, um darüber schreiben zu können.

Was ist davon geblieben?

Und plötzlich wieder: Apfelduft und der Schweiß der Mutter.

Erinnerungsblitze, die früher oder später ausbleiben werden.

***

Heute geht er nirgends mehr hin. Den Schlafsack entrollt er gleich hinter dem Dorf. Er lutscht ein Bonbon und betrachtet den Nachthimmel. Die Sterne stehen seit seiner Kindheit unverändert. Ab und zu blinkt zwischen Wolkenfetzen ein Flugzeug oder ein Satellit. Das gefällt ihm, er fühlt sich nicht ganz so einsam.

Einige Dutzend Kilometer weiter schaut Irene in denselben Nachthimmel. Sie steht mit verschränkten Armen auf dem Balkon, hält zwischen den Fingern eine brennende Zigarette. Das orange Licht der Straßenlaternen ist so hell, dass nicht alle Sterne zu sehen sind.

Irene drückt die Kippe aus und kehrt ins Bett zurück. Sie kann lange nicht einschlafen. Sie denkt an den Vater, an den Weg, auf den er sich gemacht hat, und sie ist zornig, weil er sie solchen Ungewissheiten aussetzt. Der Angst, dass er sich im Wald verirren könnte, dass man ihn verwirrt plappernd findet, verletzt oder gar tot.

Und während Thomas ruhig schläft, zählt Irene die an der Zimmerdecke vorüberhuschenden Lichter der Autos.

***

In Inselthal kommt Thomas kurz nach Mittag an.

Ein Schauder des Entsetzens, nur einen Lidschlag lang – beim letzten Mal hatten die Häuser noch gestanden. Jetzt sind hier Bäume, hohes Gras. Brombeerdickicht, Moos, durchtränkt mit Feuchtigkeit.

Das ist alles, was von seinem Dorf übrig ist.

Thomas atmet tief durch. Er zieht die Zigarettenschachtel heraus, raucht zwei, bis er sich etwas beruhigt hat.  

Dann, Schritt für Schritt, geht er weiter. Sein Gesicht ist düster, er versucht sich zu konzentrieren, die Erinnerungen stellen sich nur widerstrebend ein. Sie steigen aus dem Dunkel und Thomas versucht sie in das Bild zu fügen, das er vor sich sieht. Er dreht sich um die eigene Achse, stößt unversehens an die Überreste einer Ziegelmauer. Er flucht und beugt sich herab, einige der durcheinander geworfenen Ziegel sind mit einem Eisenring versehen -  zum Anbinden der Pferde. Thomas begreift, dass er an der Stelle steht, wo früher die Schmiede war. Das erfüllt ihn mit Freude, als er hätte er ein kompliziertes Rebus gelöst. Er schaut rundum, schreitet vorwärts, langsam und bedächtig, er will nichts übereilen.

Auch in Ostrůvek stehen die Obstbäume noch, die von Flechten überwachsenen Stämme erinnern an einstige Ernten. Statt des Dorfplatzes findet sich ein Flecken Wiese, Thomas stellt sich mit halbgeschlossenen Augen die Giebel der Häuser vor, die den Platz einst umstanden. Er ist bewegt, gerührt. Das Haus, in dem er geboren wurde, stand ganz am Ende des Dorfes.

Er nimmt sich vor, Schritt für Schritt bis dorthin zu gehen, als würde er in kleinen Schlucken viel zu kaltes Wasser trinken. Sein Weg führt vorüber an verschütteten Kellern. Die Sonne lehnt sich in seinen Rücken, auf Stirn und Oberlippe sitzen winzige Schweißperlen.

Und dann auf einmal ist er da. Blaubeergestrüpp, vereinzelt ein vergessener Stein. Der Wald hat sich das Vorhaus genommen, das Fenster und die Küche, in der die Mutter Brot buk.

Thomas setzt den Rucksack ab. Die Rührung ist zu Befangenheit geworden, statt der erwarteten Euphorie fühlt er eine verschwommene Verstimmtheit, Enttäuschung. Er streift durch die Blaubeeren und über die dünne Schicht Nadelboden, bleibt stehen, wo einst sein Bett stand.

Er ist zuhause.

Unwillkürlich greifen seine Hände an den Kopf, an die harte Schale des Schädels, die sein verlöschendes Hirn umschließt. Dann tritt er in die Küche. Er fühlt eine stille Freude in sich aufsteigen, die langsam durch seinen Körper sickert, von den Fingerspitzen (wo sie als sachtes Kribbeln sitzt), über Bauch und Brust bis in die Stirn.

Thomas stellt sich an das große Fenster zum Hof. Das Beste – den Baum, den er als Kind vor sich sah, wenn er am Küchentisch saß, zum Essen oder über den Hausaufgaben, hebt er sich auf bis zum Schluss. Er betrachtet die Fichten, die auf dem Hof gewachsen sind, die Himbeeren, die den betagten Birnbaum ersticken, die gebrochenen Hollerstämmchen.

Erst dann richtet er seinen Blick auf den Apfelbaum, der, so lange er denken kann,  eine Fülle gelbroter süßer Früchte bereithielt. Ein Gravensteiner (welche Genugtuung, dass er sich an den Namen erinnert). Thomas steht und betrachtet ihn still. Süße flutet ihm über den Rücken, er fährt mit der Zunge an den Zähnen entlang, beißt, die Backenzähne zermahlen unsichtbare Apfelkerne. Er verschlingt den Baum mit den Augen, will ihn sich in die Netzhaut brennen.

Und so findet Irene ihn, mit strahlendem Gesicht, Luft kauend. Sie erschrickt, gerät außer sich, sie sieht in den unermüdlichen Bewegungen des Kiefers ein weiteres Zeichen der Krankheit und ahnt nicht, dass Thomas gerade von seiner Kindheit kostet. 

Übersetzt von Kristina Kallert und Lucie Gottliebová