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14.02.2015, 16:56 Uhr
Sandra Hoffmann
Text & Debatte
Im Juli 2014 trafen sich drei tschechische und drei deutsche AutorInnen in Sulzbach-Rosenberg, um für beide Seiten wichtige Gedächtnis-Orte in der Oberpfalz kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Ihre Texte erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Sulzbach-Rosenberg/OPf.-Austausch]: Der Ausflug ins Konzentrationslager Flossenbürg

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Häftlingsbrief KZ Flossenbürg, August 1940

Ich war zuerst nicht begeistert davon.

Ich war bereits in Dachau, in Buchenwald und in Auschwitz gewesen, ich habe mich für meinen letzten Roman so sehr mit der deutschen und der polnischen Geschichte auseinandergesetzt, dass ich dachte: ok, es ist erst einmal genug, es ist gut, ich habe jedes mögliche Gefühl dafür mit mir selbst erlebt, reflektiert, aufgeschrieben, und so lange wieder weggelöscht, bis am Ende an meiner Stelle ein anderer Mensch blieb: Janek Bilinski, ein polnischer Zwangsarbeiter.

Aber gut, dann eben Flossenbürg.

In meinem Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist habe ich mir einen Großvater erfunden, und meiner Mutter einen Vater. Nicht einfach so. Sondern weil man eine Herkunft braucht. Und weil Leerstellen immer gefüllt werden müssen. Am besten mit Leben. Und sei es auch mit einem fiktiven. Aber was ist das schon, fiktiv und erfunden. Was ist das, eine Geschichte? Und wodurch wird sie bestimmt?

Meine Großmutter hat nie erzählt, wer der Vater meiner Mutter ist, sie hat Fragen zu Fotografien von Männern und Bildern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs nie beantwortet, sie hat die Hand in ihre Schürzentasche gesteckt und geschwiegen. Sie hat gebetet, in ihrer Schürzentasche steckte der Rosenkranz. Auch sonst konnte oder wollte niemand Auskunft geben, der noch am Leben war. Meine Mutter, der Bastard, wurde auf dem Dorf, auf dem sie aufwuchs, das Polakenkind genannt, aber weit und breit war da kein Pole zu finden. Auch noch nicht als meine Großmutter starb. Als meine Großmutter bereits zehn Jahre tot war, habe ich wieder einmal die Fotosammlung meiner Großmutter neu- und umsortiert. Zeitgleich gab es in meiner Heimatstadt, Biberach an der Riss, eine Ausstellung zur Stadt in Zeiten des Nationalsozialismus. Das Dorf, in dem meine Großmutter mit meiner Mutter lebte, liegt im nächsten Umkreis der Stadt. Und in dieser Ausstellung samt Ausstellungskatalog entdeckte ich Fotos, auf denen Menschen abgebildet waren, die ganz ähnliche Kleidung trugen und auch als Erscheinung und in den Zusammenhängen, in denen sie fotografiert wurden, ganz ähnlich wirkten, wie einige Männer auf den Fotos meiner Großmutter. Und ja, ich wußte natürlich von Zwangsarbeit, und dass vor allem größere Firmen Zwangsarbeiter in Massen beschäftigten, wußte ich auch. Aber was sollte ein Zwangsarbeiter in einem kleinen Dorf in Oberschwaben tun? Doch es gab sie in gar nicht geringer Zahl und von vielerlei Nationalität. Sie waren in Fabriken beschäftigt, und manche auch im Umkreis der Fabriken. Aber was hatten Bauern auf Dörfern mit Zwangsarbeitern zu tun? Ich war elektrisiert und begann alles zu lesen, was es über Zwangsarbeit und Zwangsarbeit in Oberschwaben gab, vor allem Dissertationen, weil mich gesichertes Forschungsmaterial bei meiner Recherche mehr interessierte als Geschichten. Und also brachte ich in Erfahrung, dass es tatsächlich Bauern gab, die Zwangsarbeiter beherbergten, wenn es von ihrem Arbeitsplatz zu einem Hauptlager zu weit entfernt war. Und nach weiteren Recherchen über Displaced Persons, also Menschen, die nach dem Krieg irgendwo in Deutschland waren und nicht mehr einfach zurückkehren konnten, woher sie kamen, jedenfalls nicht ohne Hilfe, begann ich über Janek Bilinski, einen Polen, zu schreiben, der sich auf einem Dorf in Oberschwaben in Paula verliebt hat, die Tochter des Bauern, auf dessen Hof er untergebracht war. Es wurde ein Roman.

Um für einen Moment vom Thema abzukommen: Wer dort wohnt, mit Blick auf das ehemalige Konzentrationslager-Gelände, muss, um es mal mit freundlichem Erstaunen auszudrücken, von jeher mit einer ganz speziellen Abwehrleistung ausgestattet sein. Denn die Häuser, die dort stehen, sind alles 50er und 60er Jahre-Bauten, und alle blicken vom Hang hinab auf das Lagergelände. Im Auge immer die Fundamente abgerissener und restaurierter Baracken, Gedächtnisse allerschrecklichster deutsche Geschichte, im Auge den Tod von abertausenden über Monate oder Jahre gequälten Menschen, und im Auge immer auch die eigene Herkunft. Denn wer von uns hat eigentlich nicht irgendjemanden in der nahen oder entfernten Familie, der so oder so einmal mehr oder weniger mit Hitler und den Nationalsozialisten liebäugelte?

Mein Roman: Die Geschichte von Janek Bilinski geht nicht schlecht aus, aber auch nicht gut. Es gibt kein Happy End. Es gibt einen Mann und eine Frau, die nach dem Krieg getrennte Wege gehen. So hat es meine eigene Geschichte und die meiner Großmutter gewollt.

Es gibt in Flossenbürg, wenn man bereits sehr viel gesehen hat, und das Lager und die Zeit nach 1933 einem als Gesamtschicksal wirklich sehr nahe gekommen sind, einen Raum, in dem Einzelschicksale von inhaftierten Menschen aus ganz Europa erzählt werden. Sie stehen einem zu diesem Zeitpunkt bereits sehr nah. Aber mit dem, ich nenne es mal so, Flossenbürger Konzept der schrittweisen Annäherung an das Individuum, kommen sie einem noch viel näher.

Ich gehe zu den Menschen aus Polen. Wie soll es anders sein?

Und ich finde die Geschichte eines polnischen Zwangsarbeiters, der sich auf einem Hof in der Oberpfalz in eine deutsche Frau verliebt hat. Und die Bauerstochter sich in ihn.

Es ging schlechter aus, als bei Janek Bilinski und Paula in meinem Roman. Und am Ende besser.

Die beiden Liebenden wurden entdeckt und angezeigt. Die Frau kam ins Konzentrationslager nach Ravensbrück (wenn meine Orts-Erinnerung stimmt) und der Pole ins Konzentrationslager nach Flossenbürg, wo er schließlich bei einem der Todesmärsche dabei war. Das war einige Tage vor der Befreiung 1945. Der Mann überlebte den Marsch gerade so, und er war dem Tod nahe, als die Amerikaner das Lager befreiten. Nach der Rettung wurde er gesund. Und durch ein genauso freundliches Schicksal im unfreundlichen überlebte auch die Frau das Lager in Ravensbrück. Die beiden Menschen fanden sich nach der Befreiung wieder, weil der Pole sich auf die Suche gemacht hatte nach der ehemaligen Geliebten. Sie wurden ein Paar für das Leben, das ihnen noch blieb.

Auch mein Pole im Roman suchte seine Bauerstochter, Paula. Aber mit der Liebe verhielt es sich anders.

Das kann man nicht erfinden, hören wir oft, wenn etwas sehr gut ausgeht oder einen überraschend positiven Verlauf nimmt. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Man kann alles erfinden. Aber was einen vielleicht daran hindert: die Angst vor dem Glück, die Angst vor Pathos, und die Angst vor genau diesen Tränen über ein gutes Ende einer Liebe und eines Lebens, die ich geweint habe, als ich in Flossenbürg vor der biografischen Tafel des Polen stand, der sehr viel aushalten musste, um doch noch ein gutes Leben führen zu können. Ich bin froh, dass ich ihn gefunden habe.