Info
11.10.2012, 16:45 Uhr
Ludwig Bauer
Text & Debatte
Vom 16. bis 19. Mai 2012 reisten sechs bayerische Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach Kroatien, um kroatische KollegInnen kennen zu lernen. Das Blog des Literaturportals Bayern veröffentlicht die Berichte der TeilnehmerInnen des Austauschs in loser Folge.

[Kroatien-Austausch]: Über ein glückliches Gefühl in einer unglücklichen Stadt

Noch bevor wir uns kennen lernten, wusste ich, dass Petra Morsbach und ich ein gutes Gespann abgeben würden. Wir sollten gemeinsam auftreten, als Schriftsteller einander dem Publikum entdecken. Ihre Prosa war mir nahe. Auf dem Weg nach Osijek kamen wir uns auch persönlich näher. Petra versteht es Fragen zu stellen, ich habe eine stärkere Neigung zu Antworten. Aber auch so lassen sich beide Seiten beleuchten. Wir sind uns einig, dass unsere Texte, ihre Prosa und meine Prosa, auf einer bestimmten Ebene verwandt sind. In Vielem stimmen wir überein. Um Schablonen zu vermeiden, gibt es zum Glück auch Dinge, bei denen wir unterschiedlicher Meinung sind. Petra glaubt nicht, dass der Mechanismus der Identifikation entscheidend ist für das Erleben eines Kunstwerks. Mir scheint er es zu sein; natürlich meine ich nicht eine Identifikation auf der banalen Ebene. Petra meint, die Figur der Frau Wesseli in meiner „Partitur für eine Zauberflöte“ sei etwas artifiziell geraten. Sie drücke sich allzu gewählt aus. Eine genau solche Frau Wesseli habe ich in Wien kennen gelernt. Trotzdem könnte Petra recht haben: Frau Wesseli ist vielleicht nicht so typisch, wie es mir erschienen war ... oder hat vielleicht der Übersetzer ins Deutsche dem Ganzen ein anderes Niveau verliehen. Es scheint, dass auch diese Unterschiede in den Ansichten das Gefühl gegenseitigen Verstehens stärken.

In Osijek haben wir viel Publikum. Die meisten sind „meine Schwaben“. „Švabo“, also ‚Schwabe‘, war ein Schimpfwort für alle Deutschen, aber es war auch eine Bezeichnung der autochthonen Deutschen, die hier schon seit den Zeiten Maria Theresias lebten. „Meine Švabi“ ist ein Ausdruck der Zuneigung zu den Angehörigen einer Minderheit, die es kaum noch gibt. Ich mag sie, und sie mögen mich. Alle meine Bücher sind ihnen nahe; viele handeln von ihnen; sie sind mein treuestes Publikum. Petra und ich bekommen guten Kontakt zum Publikum. Aber das gilt auch für die anderen: Alle sind wir hier willkommen, die deutschen wie die kroatischen Autoren. Das Gespräch findet nach dem literarischen Abend eine Fortsetzung. Es wird gegessen und geredet, geredet und geredet; freundschaftlich natürlich. Genau genommen: immer freundschaftlicher. Je besser wir uns kennen lernen, desto mehr mögen wir uns. Die Literatur ist ein guter gemeinsamer Rahmen für Gespräche ohne Ende, Gespräche, die jeden Aspekt unserer Wirklichkeiten berühren können, die aber nie auf die Ebene des Banalen hinabsteigen, nie in ein Favorisieren und Aufdrängen eigener Präferenzen münden; letzteres ist uns jedenfalls nicht passiert. Natürlich war der Grundimpuls unseres Zusammenkommens auch die Absicht, uns gegenseitig möglich gut kennen zu lernen, möglichst gut zu verstehen.

Am folgenden Tag fuhren wir nach Vukovar. Geplant war, dass wir den Gästen aus Deutschland die Leiden Vukovars im jüngsten Krieg, jenem vom Beginn der Neunziger, nahe bringen würden. War aus der Wahl gerade dieser Themensetzung vielleicht auch eine Spur der unterbewussten Absicht zu spüren, dass sich die Deutschen daran erinnern würden, wie sie unsere Städte im Zweiten Weltkrieg zerstört haben? Eingedenk dessen, dass man hier die Deutschen mag, ist das wenig wahrscheinlich; eingedenk dessen, dass einige Vorurteile tief verwurzelt sind und sie noch nicht so lange vergraben sind – ist es nicht ganz ausgeschlossen. Sollte es so sein, handelt es sich um einen Irrtum. Wer die kroatischen Städte zerstört hat, waren die Alliierten. Vielleicht war das ja die einzige Möglichkeit, die Feinde zu vertreiben, aber vielleicht war das – so wie im Fall von Dresden und Berlin – auch etwas, was wir heute als Kriegsverbrechen bezeichnen.

Ludwig Bauer stellt Petra Morsbach in der Buchhandlung Nova in Osijek vor; Gedenkfriedhof in Vukovar (Fotos: Verena Nolte)

Ich hatte Vukovar zwei Monate vorher besucht. Auch damals ging es um ein Kulturprojekt, mit dem das gegenseitige Verstehen gefördert werden sollte. Am Rande des offiziellen Teils begriff ich, dass ich dem nicht entkommen konnte, was ich jahrelang gemieden hatte. Es galt einige fast vergessene Gräber aufzusuchen ... Nicht gerade vergessene, besser gesagt, Gräber, die zu vergessen ich versucht hatte. Die frühesten Jahre der Kindheit in Vukovar zur Zeit des Zweiten Weltkriegs lassen sich schwerlich in ein Album glücklicher Erinnerungen einordnen. Aber damals sah nicht alles so tragisch aus, wie es großenteils war. Manches hatte durchaus etwas von einer Idylle. Die autochthonen Deutschen stellten ungefähr die Hälfte der Bevölkerung. Mit Serben und Kroaten teilten sie alles, was gemeinsam sein konnte. Sowohl die Kroaten als auch die Serben partizipierten gleichermaßen an dieser Gemeinschaftlichkeit. Alle feierten sowohl die katholischen wie die orthodoxen Feiertage. Die einen nahmen deutsche Wörter in ihre Sprache auf, die anderen slawische. Kroaten wie Serben stießen gern mit einem Glas gutem Wein aus der Fruška Gora an und sagten: Prosit! Die Deutschen sagten etwas, was für die anderen so klang wie: Šifila ti meni! Sollst leben! Alle wussten, dass die Frauen Strümpfe für die Partisanen strickten. Sie wussten auch, dass meine Tante, eine angesehene Apothekerin, den Partisanen Medikamente schickte. Deshalb hat man ihr verziehen, dass sie mit den Offizieren der Wehrmacht Karten gespielt, dass mancher von ihnen sie zu später Stunde nach Hause begleitet hat. Sie war eine emanzipierte Frau, sie sprach ein kultiviertes Deutsch, das nannte man Bühnensprache, die Geselligkeiten überstiegen bestimmte Grenzen nicht, und so rümpften die Nachbarn wohl etwas die Nase, wussten aber, dass sie auf der richtigen Seite stand. Wie sehr sie auf der richtigen Seite gestanden hatte, sollte sich später herausstellen. Sie hatte nicht nur Medikamente geschickt. Für die hätte sie, bis zu diesem Augenblick die stolze Deutsche, gleich nach dem Krieg nicht den Offiziersrang der jugoslawischen Befreiungsarmee verliehen bekommen. Manches von alledem habe ich erst später begriffen. Dass zum Beispiel auch meine Mutter ihren „Kopf in der Tasche“ trug, wie man damals sagte, weil mein Vater seine Domobranzen-Einheit geschlossen zu den Partisanen geführt hatte. Er sah es als die Pflicht eines jeden Deutschen an, der dazu in der Lage war – gegen Hitler zu kämpfen. Mit dieser Überzeugung ist er auch gefallen.

Die Brüderlichkeit zwischen Serben und Kroaten zeigte sich auch in Augenblicken, als die betrunkenen Befreier versuchten, mehrere junge Frauen, darunter auch meine Mutter, zu vergewaltigen. Der Schmied Živković und seine Söhne, alle Orthodoxe, riskierten ihr Leben für die bedrohten Kroatinnen und verprügelten die betrunkenen Sowjetsoldaten. In das Drama jener Zeit gehört auch die Tatsache, dass sie unseren Wohnungsvermieter, einen Deutschen, der die Nationalsozialisten aus vollem Herzen hasste, unter anderem auch deshalb, weil sie seinen Sohn an die Ostfront in den Tod geschickt hatten, am selben Abend in einem Wäldchen erschossen. Er war ein Deutscher. In das Drama jener Zeit gehört auch die Tatsache, dass man mich für jedes gesprochene deutsche Wort verprügelte und die ganze Mühe meiner Tante, die wollte, dass ich ein ordentliches Deutsch sprach und nicht im Dialekt redete wie unsere Nachbarn, den Bach hinunter ging. Diesen Bach hinunter ging auch mein Deutsch, zum großen Teil für immer. In das Drama dieser Zeit gehört auch die Tatsache, dass alle Deutschen als „Kollaborateure der Besatzungsmacht“ vertrieben wurden, wobei die Tatsache außer Acht gelassen wurde, dass die Donauschwaben prozentuell weniger am Faschismus beteiligt waren als ihre Nachbarn. Das einzige antifaschistische Blatt, dass in diesem Teil der Welt während des Krieges auf Deutsch erschien, wurde gerade von ihnen herausgegeben.

Mit dem Gewicht dieser Erinnerungen war ich zu dem ersten Besuch Vukovars gekommen. In der Stadt, die sich nach den jüngsten Zerstörungen und dem Wiederaufbau verändert hat, fand ich den Weg zum Friedhof nicht mehr. Als ich nach dem Friedhof fragte, und das musste ich ein paar Mal tun, erfuhr ich, dass das Wort Friedhof nicht mehr ausreicht: man hatte ausdrücklich zu sagen: katholischer oder orthodoxer Friedhof. Und je nach diesem Attribut wechselte auch die Stimmung der Person, die ich fragte, von Mitgefühl bis Hass. Mein Mitwirken in der Deutschen Gemeinschaft, vor allem über die Symposien „Deutsche und Österreicher im kroatischen Kulturkreis“, von denen ich einer der Initiatoren war, habe ich zum großen Teil auf die Überzeugung gegründet, dass die Deutschen mit ihrer tragischen historischen Erfahrung immun sein müssten gegen extremen Nationalismus und gegen allzu starke Überzeugungen. Haben die Menschen hier denn nichts aus der eigenen Tragödie gelernt? Sind denn nach dem Abzug der autochthonen Deutschen aus der Stadt nur Menschen lärmend mit der Last des ewigen gegenseitigen Hasses in ihre Häuser eingefallen? Ich gebe zu, ich habe am Grab einer meiner Großmütter geweint vor der von Schrapnellen gelöcherten Marmorplatte. Sie war nicht meine richtige Großmutter, aber sie hat sich um mich als Kind gekümmert als die allerrichtigste. Mit deutschem Akzent, den sie nie abgelegt hat, mit dem charakteristischen gerollten ‚r‘, sagte sie gerne, sie sei Kroatin mit Leib und Seele, aber ihre beste Freundin war natürlich die Nachbarin Živković, eine Serbin.

So gingen wir, die deutschen und kroatischen Kollegen, anlässlich dieses zweiten Besuchs Vukovars über den Gedenkfriedhof, erfüllt von Trauer wegen der Tragödie, die diese Stadt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts heimgesucht hat. Als wir an der Donau, uns frei machend von der bedrückenden Last, ins Erzählen gerieten, begriff ich, wie sehr wir einander in dieser kurzen Zeit näher gekommen waren. Ich fühlte, dass wir uns nahe waren anstatt verschieden zu sein, und unsere Verschiedenheiten empfand ich als komplementär. Jemand neben mir plauderte auf Deutsch, und mir war es, als würde für einen Moment die Atmosphäre jenes einstigen Vukovars wieder aufleben, in der auch der Druck des Krieges nicht das gegenseitige Verstehen zwischen den Angehörigen der verschiedenen ethnischen, religiösen und anderen Entitäten zerschlagen konnte. Ich spürte, dass wir – die kleine Gruppe deutscher Autoren und die kleine Gruppe kroatischer Autoren – Freunde geworden waren.

Ich neige nicht dazu, in Schriftstellern Propheten zu sehen. Ich neige nicht dazu, in Schriftstellern Führende zu sehen. Schriftstellern ist es vorrangig gegeben zu schreiben. Aber die Freundschaft, die in dem mit gegenteiligen Beispielen überfüllten Kontext entstanden war, erschien mir als etwas Heiliges; fast heiliger als das, was den Schriftstellern so sehr heilig ist, nämlich – die Literatur. Ein solch glückliches Gefühl in einer so unglücklichen Stadt.

[Aus dem Kroatischen übersetzt von Klaus Detlef Olof]

Ludwig Bauer, 1941 in Sisak / Kroatien geboren, studierte Slavistik in Zagreb, Prag und Bratislava. Für seine zahllosen Bücher, darunter auch viele Kinderbücher, wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Neben seiner Tätigkeit als Übersetzer von Fachliteratur, u.a. dem ersten Fachbuch über Kybernetik (J. Bober: Mensch, Maschine, Gesellschaft, 1967), und literarischen Texten ins Kroatische, arbeitete er auch als Drehbuchautor. Seit 1990 leitet er die Zagreber Schule für kreatives Schreiben und die Meisterwerkstatt für Prosa. In seinen Romanen zeichnet Bauer die Schicksalswege der Deutschen und Österreicher Südosteuropas nach, so auch in der bisher nur auf Kroatisch und Slowakisch vorliegenden Kurzen Chronik der Familie Weber (Sarajevo, 1990), die unter den heutigen Donauschwaben ein Kultroman wurde. Auf Deutsch erschien 2008 sein Roman Partitur für die Zauberflöte in der Übersetzung von Klaus Detlef Olof im Klagenfurter Wieser Verlag.