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29.01.2013, 13:32 Uhr
Kateřina Tučková
Text & Debatte
Im Juli 2012 trafen sich vier tschechische und vier deutsche AutorInnen in Lidice, um den Gedächtnis-Ort kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Die Essays erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Lidice-Austausch]: Kreuzweg für Lidice

I.

Die weite, sanft wellende Landschaft dehnt sich vor mir in eine überschaubare Ferne; nur ab und an unterbrechen Gebüsche die klaren Linien, die den Strahlen der Sommersonne ausgesetzt sind. Sie enden am Horizont, werden gekappt von der sanften Rundung der Hügelkuppe.

Der grüne seidige Teppich, in den die Wiesenblüte ihre bunten Köpfchen webt, wird von träge ziehenden Wolkenschatten bewegt. Fast sieht es aus, als wälze sich die Landschaft vor mir hin und her – ein junges Mädchen, das zaghaft die Wirkung seiner Reize erprobt. Und ich erliege und lasse mich mit verhaltenem Atem locken, verführen – ich verlasse den Weg, trete in diese jungfräuliche Landschaft ein, verlange danach mit ihr zu verschmelzen, Teil dieses Ganzen zu werden. Auf die Erde niederzusinken, ins Gras, in diese frische duftende Umarmung, und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen ins Himmelsazur zu schauen, mich am Tirilieren der vorüberschnellenden Schwalben zu freuen und dem zufriedenen Zirpen der Grillen.

Geradezu beruhigen lassen möchte man sich von solch jungfräulicher Unschuld, wie sie dieser Sommertag übers weite Gelände gezaubert hat. Fast könnte man vergessen, dass das, was da vor einem liegt, die Landschaft von Lidice ist.

Dass diese Jungfräulichkeit nur erlogen ist, wohl ersonnen und sorgfältig hergestellt von Dutzenden tödlichen Händen. Dass kein unschuldiges Mädchen vor einem liegt, sondern eine schwer geprüfte Frau, deren Schoß man das Leben entrissen hat. Eine Landschaft der Abtreibung.

 

II.

In dieser Landschaft steht ein einsamer Birnbaum.

Ich bin der Birnbaum.

Und bin schon mehr als hundert Jahre alt.

Ich sehe verdorrt aus, verkrüppelt, bin nicht einmal allzu groß. So habe ich immer schon ausgesehen, und glaubt mir, gerade dieser meiner Nichtigkeit verdanke ich, dass ich noch immer hier stehe. Ich knarre und gebe Zeugnis mit leiser Stimme – ich bin an diesem Ort hier das letzte Lidicer Leben. Ich allein habe den 10. Juni 1942 hier überdauert. Ich bin Geschichte.          

 

III.

Dieser Tag begann für die Menschen in Lidice anders als in den sonstigen Dörfern und Städten des Protektorats. Er begann leise und schleichend, in einer Vielzahl deutscher Soldatenkörper, die sich durchs Dunkel streuten und langsam das Dorf umstellten. Kurz vor Mitternacht schliefen die Lidicer ihre letzten ruhigen Minuten. Bei Sucháneks wurde man wach, Geräusche von der Straße waren zu hören. Herr Suchánek, Konditor, auch Autor eines bekannten Kochbuchs, ließ seine Familie einstweilen noch schlafen. Er dachte, er müsse sie nicht in Alarm versetzen. Nervös wurde er erst, als er über sich ein besessenes Klopfen vernahm. Im Stockwerk drüber wohnte Gustav Pospíšil in einem Zimmer zur Miete, ein Invalide aus dem Ersten Weltkrieg, dessen Holzbein auf einmal erschrocken klopfte, in einem nie zuvor gehörten Rhythmus, begleitet vom Stampfen vieler schwerer Stiefel. Kurz nach drei in der Früh kamen sie auch zu ihm. Sucháneks hatten inzwischen ihre zwei halberwachsenen Töchter geweckt, unruhig saßen sie um den Küchentisch, versuchten, sich gegenseitig Mut zuzusprechen – etwas Unrechtes hatten sie nicht getan, vermutlich eine Routinekontrolle, jetzt, nach dem Attentat auf Heydrich, waren Durchsuchungen an der Tagesordnung.

Sie sollten für drei Tage packen, sie müssten zu einem Verhör.

Und das Vieh? Wer wird es füttern?

Wir werden uns darum kümmern, hieß es.

 

IV.

Noch war der Tag nicht angebrochen. Über dem Horizont ließ sich der lange helle Streifen der Dämmerung höchstens erahnen, das Dorf aber lag längst nicht mehr am Grund des Dunkels. Bei Sucháneks brannte Licht und auch die Fenster der übrigen Häuser waren erleuchtet. Dabei war es noch lange nicht Zeit, dass die Männer sich auf den Weg zur Arbeit ins Eisenwerk Kladno machen, die Frauen die kleine Wirtschaft besorgen, die Kinder in die Schule gehen. Und doch war das Dorf auf den Beinen.

Die Sucháneks mit ihren Töchtern Miluška und Jarka, Gustav Pospíšil, die Novýs und ihre fünfjährige Tochter, die, bis ihr Haus fertig wäre, bei den Sucháneks ein Zimmer genommen hatten – sie alle wurden auf den Dorfplatz geführt und dort getrennt. Die Frauen brachte man in die Lidicer Schule, die Männer zum Hof der Horáks.

Niemand wusste warum.   

 

V.

Stille.

Stille vor dem Sturm.

Die Frauen sitzen in der Turnhalle des Kladnoer Gymnasiums; man hatte sie in aller Eile bei Tangesanbruch dorthin transportiert. Sie sind eingesperrt, durch die Tür ist nichts Genaues zu sehen, sie warten. Die Kinder hatten sich gerade noch an ihre Knie geschmiegt, sich dann, als sich so lange nichts tat, in ihre Spiele versenkt, ab und zu zerschnitt ein Jauchzer die Spannung.

Die Männer stehen gedrängt einer neben dem anderen in der Scheune, die zum Hof der Horáks gehört, und treten nervös von einem Bein auf das andere. Das ist bestimmt deswegen, weil der Horák-Sohn im Sommer nach England zu den Fliegern ist, geht es durch die staubige Scheunenluft. Warum sonst hätte die Gestapo die Horáks geholt, und die Střibrnýs, deren Sohn angeblich auch bei den Fliegern ist? Und sie? Sie warten hier sicher nur auf ein Verhör, bestimmt ist bald alles wieder vorbei.

Hin und wieder gedämpftes Husten, hie und da ein erregtes Gespräch.

Meist aber horchen die Männer, was draußen geschieht.

Das Stampfen rascher Schritte, manchmal ein Schreien, meist aber kurze Befehle, deren Bedeutung sie nicht verstehen.

Und wieder Stille.

Mittag wird es von der Kirche an diesem Tag nicht mehr läuten.

 

VI.

Die Männer ahnen nicht, dass ihre Frauen und Kinder nicht mehr in Lidice sind. Der Motorenlärm der Lastwagen, auf denen sie von den Soldaten nach Kladno gebracht wurden, ist nicht bis hinter die Wände der Scheune gedrungen, und noch immer schweigt man sie an. Zeigt sich wer in der Tür, hat er vor sich den Lauf eines Maschinengewehrs, auf die zornigen Fragen der Männer sagt er kein Wort.

Zuletzt hatten sie, die Soldaten, Pater Štermberk gefragt, ob er nicht gehen wolle. Josef Štermberk hat abgelehnt, er könne seine Pfarrkinder in einer so außergewöhnlichen Situation doch nicht alleine lassen. Wer sonst würde sie trösten?

Das nächste Mal kamen sie erst wieder gegen sieben. Wählten nicht lange, zählten kurzerhand fünf Männer ab, die gerade in nächster Nähe standen. Josef Bublík, Fahrer und Helfer von Pater Štermberk, sah sich besorgt nach ihm um. Der Priester, ganz  hinten, fing seinen Blick auf, hob die Hand, schlug sacht über die Köpfe der anderen hin ein Kreuz. Die Tür schloss sich hinter den ersten fünf, kurz darauf krachte die erste Salve.      

In einem Sekundenbruchteil hatten die Männer begriffen. Es konnte keinen Zweifel mehr geben.

Ihre Panik überdeckte das erneute Eintreten der Soldaten.

Wieder wurden fünf abgezählt. Jeder Versuch sich zu wehren war sinnlos.

Und wieder schloss sich die Tür. Karel Hroník drückt seinen Sohn Josef fest an sich. Noch auf dem Dorfplatz hatte er ihm erlaubt, dem Offizier zu gestehen, dass er noch nicht fünfzehn ist. Er presst den Kopf seines Sohnes fest an die Brust, legt ihm den Arm übers Ohr. Er hatte gedacht, dass es besser sei, ginge der Sohn mit ihm, nicht mit seiner Frau, die mit den Nerven sowieso völlig herunter war. Jetzt fühlte er unendliches Bedauern. Er hätte am liebsten geheult, aber seine Kehle war zugeschnürt, nicht einen Laut konnte er von sich geben… Andererseits – was wird mit ihnen geschehen, mit den Frauen, den Kindern, wenn man sie, die Männer, hier abknallt wie die Karnickel, ohne Angabe eines Grunds, fuhr es ihm durch den Kopf. Und was, zum Teufel, ist eigentlich los, dass diese Menschen mit ihnen so etwas  machen? Es sind doch Menschen, oder nicht?       

Wieder Schüsse. Und noch zwei einzelne hinterher, einer der Nachbarn war offenbar nicht gleich tot.

Die Männer knieten um Pater Štermberk nieder. Seine Stimme zitterte, aber über ihren gesenkten Köpfen erklang das Wort Gottes auch so. Die meisten, auf die er hier sah, hatte er aus der Taufe gehoben, er hatte sie getraut, hatte auch ihre Kinder getauft und jetzt gab er ihnen die letzte Ölung.

Einigen rannen Tränen über die Wangen. Andere drückten sich still gegen die Wand. Wieder andere standen mit hängenden Armen, den Hut in Händen, in der Mitte des Raumes und warteten.

Die Tür öffnete sich noch viele Male.

Nach zwei Stunden wiesen die Läufe der Maschinengewehre nicht fünf Leute hinaus, sondern zehn. Die Offiziere fanden, die Arbeit ginge zu langsam voran.

Karel Hroník ging, führte seinen Sohn an der Hand. Nicht einmal die Augen hatte man ihnen verbunden, und kaum dass sie um die Ecke der Scheune bogen, sahen sie in vielen Reihen die Leichen der Nachbarn. Er sah Vojta Huřík, der die weithin bekannte Lidicer Knappenkapelle geleitet hatte, sah dessen Sohn Ládi, sah Vašek Hanf, den Kommandanten der Freiwilligen Lidicer Feuerwehr, Vašek Šilhan, dem das Gasthaus in Lidice gehörte, er hatte die so weithin beliebten Tanzvergnügungen organisiert. Ihm und dem Suchánek hatte die tödliche Kugel das Gesicht halb zerfetzt. Fast alle lagen rücklings, Arme und Beine von sich geworfen, verdreht. Ihre erloschenen Augen starrten hoch in den klaren blauen Himmel, den die Vormittagssonne mit glühendem Gold durchwob.

Am frühen Abend lagen bei Horáks auf dem Hof einhundertdreiundsiebzig Lidicer Nachbarn.

 

VII.

Lebende Kette. Dutzende Hände. Ärmel zum Ellbogen aufgekrempelt. Hände greifen nach dem, was den Männern gehört, deren Leichen jetzt auf dem Hof des Anwesens liegen. Eingraben wird sie erst am nächsten Tag eine Spezialkolonne aus Theresienstadt.  

Über den verlassenen Lidicer Dorfplatz hallt der Donner der Detonationen, ein Bersten und Brechen, da stürzt eine Scheune ein, dort ein Mäuerchen, das einen Garten abgeteilt hat. Die Flammen lecken bald an den Dächern der Häuser, dunkler Rauch steigt in Schwaden darüber hoch.

Die flache Mulde des Podhora-Weihers füllt sich mit Schutt, füllt den Grund bald so weit, dass die Mulde mit der restlichen Landschaft verschwimmt. Die Grabsteine auf dem Lidicer Friedhof wurden gestürzt, starke Arme heben sie auf die Ladeflächen der Laster, die sogleich aufbrechen zu den Baustellen in der Umgebung.

Eine Kamera erfasst sorgfältig jede einzelne Szene, der Führer und auch das Publikum in den Kinos, für das man die Aufnahmen eigentlich macht, dürfen auch nicht nur einer Sekunde verlustig gehen. Alle sollen erfahren, wie absolut und wie unerbittlich die Macht der neuen Herren in Böhmen ist und wie sie Ungehorsam bestraft.

Harald Wiesmann, der  Gestapo-Kommandant von Kladno, scherzt fröhlich mit den übrigen Offizieren, auch wenn er die ganze Nacht auf den Beinen war. Das Feuer bescheint ihre Gesichter, sie lachen, als die Soldaten kopfüber vor dem Zugriff des stechenden Rauches fliehen. So benimmt man sich, wenn man gute Arbeit geleistet hat.

Von Lidice sind nur entblößte Trümmer geblieben.

In ein paar Wochen, wenn der Arbeitertrupp wieder abzieht, wird keiner erkennen, dass es hier je irgendein Dorf gab.

 

VIII.

Ich bin der Bach, der einst die kleinen Mühlen der Lidicer Kinder trieb. Ich sah ihren Spielen zu und spülte um ihre nackten Füße, wenn sie sich kreischend auf meinem seichten Grund tummelten. Ich trug die Rindenschiffchen verträumter Jungen davon, die Kränze heiratslustiger Mädchen. Seit Menschengedenken tränkte ich hier in Lidice Vieh, Pferde und Hunde. Die Tränen derer abzuwaschen, die mich Tag für Tag überschritten, vermochte ich jedoch nicht. Auf einmal war keiner mehr da, nicht einer. In meine Wasser trinkt sich nur durch die Erde hindurch was von den Lidicer Männern blieb, die ein Stück weiter vergraben sind.

Ich bin der Bach, dem die Fremden das Rückgrat verbogen.

Jetzt, nach all dem Erlebten, bin ich ein anderer Bach. 

 

IX.

Wir sind die leeren Gräber.

Wir sind Münder ohne Zähne, verdorrte, trockene Gruben. Man hat uns unsere Leiber gestohlen. Wir sind die Gräber, die entsetzt aufstarrten zu dem heiteren Sommertag, der goldenen Sonne, dem sternübersäten Nachthimmel. Bis man uns wieder verschüttet hat.

Wir sind leer, sind mit Erde gefüllte Gräber und der Schrecken der Junitage von damals hat uns nie mehr verlassen. Wie ihr finden auch wir keine Worte, um zu benennen, was uns widerfuhr. Und dabei möchten wir brüllen vor Verzweiflung, dass man uns unsere Leiber entriss, aus ihren Schädeln die goldenen Zähne brach, ihre Nacken um die kostbaren Medaillons bestahl, wir möchten zornige Klagen erheben, Protest. Aber noch immer sind wir starr vor Entsetzen. Bestürzt, verwirrt, stumm vor Erschrecken über die Tat, wir sind leere Gräber, die nur einmal Tränen getrunken haben, wie es recht ist und sein soll, ein zweites Mal nicht. Leere Gräber sind wir, die ein weicher, grüner Rasen bedeckt.           

 

X.

Den Frauen, die man nach Ravensbrück gebracht hat, erfahren den ganzen Krieg über nicht, dass ihre Männer nicht mehr am Leben sind, dass ihre Kinder die Erde deckt. Die später gekommenen Häftlinge schweigen, sie haben nicht das Herz, ihnen die letzte Hoffnung zu rauben. Und die Verwandten antworten auf ihre Briefe: Die Männer sind dran wie ihr oder Die Kinder sind in Polen, sie haben von dort geschrieben.

Gearbeitet wird hart, in zwei Schichten und ohne Pause. Aber Ende 1944 wird auch in Ravensbrück eine Gaskammer eingerichtet – im Lagerraum neben dem Krematorium.

Täglich beseitigt man dreihundert Frauen. Sie müssen einen Hundert-Meter-Lauf machen, am Ende der Bahn stehen der Kommandant und ein Arzt. Wer nicht kann oder zu langsam ist, wer Krampfadern hat oder graues Haar, ist zur Liquidation bestimmt. Dann weiß jede, dass ihr nur noch Tage, Stunden, Minuten bleiben, bald, unerbittlich bald wird sie nur noch ein Körper auf dem Betonboden des Lagerraums sein, und dann nur noch Asche. Nach Hause kehrt sie nicht mehr zurück, Lidice wird sie nicht mehr sehen.  

Miluška Suchánková, jetzt nur noch Nummer 1789, rennt um ihr Leben.

Jarka mit ihrem angeborenen Hüftleiden bekommt eine rosa Karte. Sie ist zur Liquidation bestimmt. Sie wartet. Sie wünscht sich nur, dass es ihr nicht so geht wie der Marie Šroubková, die man gleich zu Beginn ausgewählt hat – es heißt, dass man an ihr Experimente durchgeführt hat, die Beine aufgeschnitten, bei vollem Bewusstsein. Die Šroubeks, das waren die Nachbarn, saßen auf einem der ältesten und größten Höfe von Lidice, ihr Garten lag in Sichtweite der Sucháneks.

Die Prozession selektierter Frauen setzt sich in Gang – steuert unabwendbar zu auf den Eingang zum Lagerraum.  

 

XI.

Am Vorabend ihres Todes sitzen die Lidicer Kinder auf Holzpritschen und drängen sich um einen langen Tisch aneinander. Nach den vielen Tagen, Wochen, Monaten, in denen sich ihr Zeitgefühl völlig verlor, hat man sie aus der kalten Betonhalle fortgebracht. Die, die schon schreiben können, haben auf den rohen Brettern des Tisches eine Postkarte vor sich liegen, die sie an ihre Verwandten adressieren sollen.

Habt keine Angst um mich. Ich hoffe, es geht euch gut. Uns geht es gut. Schickt uns ein Päckchen mit Essen und Kleidung.  

Die Nachricht sollte zu den Verwandten fliegen und deren Sorgen beruhigen.

Die Kinder bemühen sich. Die, die heuer die erste Klasse der Lidicer Grundschule beendet haben, beißen sich vor Anstrengung auf die Lippen, versuchen sich an die Buchstaben zu erinnern, die der Lehrer. Herr Petřík, noch vor kurzem mit ihnen geübt hat. Ungeschickt halten sie die Feder in ihrer Faust, die auf der Postkarte liegt, die Spitze biegt sich auseinander und auf dem Papier wächst ein Klecks. Die Kinder sehen erschrocken auf zu dem Offizier, aber der winkt ab – Hauptsache sie schreiben, was man ihnen gesagt hat.

Die Älteren sind schon fertig und geben ihre ausgefüllte Karte voll Hoffnung ab. Was folgt jetzt? Schließlich waren sie gehorsam, haben alles gemacht, wie sie sollten, werden sie etwas zu essen bekommen? Etwas Warmes, womit sie sich über Nacht zudecken können? Auf dem kalten Betonboden in der Fabrikhalle wird einem so kalt…

Aber ohne ein Wort führt man sie wieder zurück.

Sie warten noch eine Nacht. Am Morgen des nächsten Tages kommen die Männer wieder, wählen sieben von ihnen aus. Auch Emilka Frejová wählen sie aus, sie ist jetzt acht Jahre. Sie glaubt, man würde sie töten. Die anderen Kinder haben so was geflüstert, angeblich haben sie das von den polnischen Kindern gehört, die in einem anderen Stockwerk der Fabrik eingesperrt sind – dass die, die man auswählt, getötet werden. Emilka glaubt, sie und die anderen sechs gehen jetzt in den Tod. Sie wundert sich über Maruška und Anča Hanf, dass sie sich in der kurzen Zeit, in der das Urteil über sie fiel, ihren Bruder Vašek erbettelt haben. Dass sie ohne ihn nirgends hingehen würden. Auch nicht in den Tod? wundert sich Emilka. Aber sie fürchtet sich nicht. Wer weiß, was dieser Tod wirklich bedeutet? Ist er schlimmer als wenn der Herr Lehrer ihnen eins mit dem Zeigestock gibt, wie damals das eine Mal? Schlimmer als im Herbst bei der Rübenernte zu helfen, wo der Rücken dann immer so wehtut? Sie weiß es nicht. Sie wird sehen.

Man führt sie weg und setzt sie in ein Auto. Sie fahren lang.

Die anderen einundachtzig Kinder aus Lidice werden sie nie mehr wieder sehen.

In Lodz trudeln die Päckchen von den Verwandten ein, ihre kleinen Adressaten treffen sie nicht mehr an.

 

XII.

Ich bin das, was von der kleinen Maruška Šroubková blieb.

Wollt ihr wissen, wie das war, als ich mit den anderen Kindern aus unserem Dorf auf dem kalten Beton in der Fabrikhalle saß, irgendwo mitten in Polen? Was meint ihr – war das Schreien und Weinen schlimmer, als man uns in Kladno in der Turnhalle des Gymnasiums den Armen unserer Mütter entriss, oder das Schreien und Weinen der hungrigen, verängstigten Kleinen, die sich eng aneinander drückten in diesen wenigen Wochen, bevor sie uns in das Gasauto luden? Was meint ihr – war es schlimmer, die Allerkleinsten, die Einjährigen, Zweijährigen anzusehen, wie sie sich verwirrt an die Beine von uns Größeren klammerten und die wir manchmal beruhigt und getröstet haben und manchmal auch weggestoßen, weil ihre Windeln voll waren und sie gestunken haben, wir kamen ja selbst nicht zurecht, und dann noch dazu sie. Oder war das Schlimmste, wie sie nach Luft rangen, in den letzten Sekunden. Wollt ihr hören, wie wir unser Essen untereinander verteilten, weil die Suppe, die Scheibe Brot und der schwarze Kaffee nicht reichte für den Hunger der Größeren? Wollt ihr hören, wie wir bei denen, die uns die Rationen brachten, ein einziges Wort zu erbetteln versuchten? Wie wir auf ihren Befehl auf die Postkarte schrieben, was sie uns diktierten, wie wir warteten, dass sie uns loben? Mit einem Stück Brot belohnen oder wenigstens mit diesem Kaffee? Wollt ihr das wirklich hören? Habt ihr dazu wirklich den Mut?

 

XIII.

Wir sind die alltäglichen Menschen – jedenfalls halten wir uns dafür.

Und wir gestehen, dass wir erleichtert waren, als sie sie endlich hatten. Natürlich, wir sind ihnen dankbar für ihre Tapferkeit, natürlich sind wir auch froh, dass sie uns den Heydrich vom Hals geschafft haben.

Haben sie aber wirklich gewusst, was sie tun? Wusste es Präsident Beneš?

War ihnen wirklich nicht klar, in welche Gefahr sie uns damit bringen, uns, die normale Bevölkerung, die brav und unauffällig in ihren Häusern sitzt.        

Seht euch Lidice an!

So gute alltägliche Menschen – jeder von uns könnte an ihrer Stelle sein!

Aber jetzt haben sie sie – Gabčík, Kubiš und alle, die ihnen geholfen haben, die so blindlings Fuenteovejuna schrieen, anstatt wie jeder anständige alltägliche Mensch zu Haus zu sitzen, wie wir. Alle haben sie, auch die kleine Jitka, die auf Befehl ihrer Mutter das Fahrrad von Kubiš hergebracht hat, auch die haben sie hingerichtet. Die Schuldigen, wie K.H. Frank sagt, wurden bestraft. Das mordende Ungeheuer legt sich wieder zur Ruhe. Zumindest für einen Augenblick.

Chor der alltäglichen Menschen: Hat sich das alles gelohnt? Hat es gelohnt?

 

XIV.

Ingeborg haben sie mich genannt. Haben mich ausgesucht, weil meine Augen die Farbe des Himmels hatten, meine Haut schimmernd weiß war, meine Wangen rot und meine Zähne sich  reihten wie zwei Perlenschnüre. Damals war ich erst zehn.

Später habe ich mich nur sehr ungern erinnert an diesen Tag – der voller Tränen war und Wehgeschrei, dass einem der Atem stockte. Ich hatte Angst. Vielleicht deshalb habe ich jede Erinnerung an ihn tief in mir begraben, und erst später, als ich bei Mama und Papa Schiller wohnte, habe ich ihn allmählich vergessen. Wir hatten eine große, geräumige Wohnung, wir haben Klavier gespielt und Ausflüge unternommen; ich hatte deutsche Freundinnen, die mich mochten, und ich mochte sie auch.

Ich war nicht glücklich, als all das plötzlich zu Ende war. Nie werde ich das Gesicht meiner Mama vergessen, als wir ins Reichsinnere fliehen mussten, weil die Rote Armee näher kam – sie war verzweifelt und tränennass. Und ich vergesse auch nicht, wie gepresst der Atem des Vaters ging, wie schmal seine fest aufeinander gepressten Lippen wirkten, als wir durch das verwüstete Land fuhren und ein neues Zuhause suchten, bei Bekannten irgendwo im abgelegenen Boizenburg. Und erst recht nicht den Schrecken, der sie überfiel, als ich hinter den Türen eines Amtes ihren Blicken entschwand. Von dort brachte mich die Repatriierungskommission 1946 wieder nach Böhmen zurück. Nach Lidice, wo ich nichts wieder erkannte, wo mich nichts erwartete als das Versprechen eines neuen leeren Hauses und Einsamkeit. 

Mit meiner wirklichen Mutter war ich nur noch für ein paar Augenblicke zusammen. Von Ravensbrück hatte man sie direkt nach Krč ins Krankenhaus gebracht, weil sie offene Tuberkulose hatte, drei Monate nach unserem ersten Wiedersehen ist sie gestorben. Und wieder war ich völlig allein, unter den Frauen aus Lidice, die mich vorwurfsvoll ansahen, weil ich überlebt hatte und ihre Kinder nicht. Und auch, als würden sie ahnen, dass ich Sehnsucht hatte nach meinem deutschen Leben, nach Mama und Papa Schiller, die so gut zu mir waren, nach dem Klavier und unseren Ausflügen…

Ich wurde schnell erwachsen. In der liebevollen, manchmal aber auch verlegenen Umarmung entfernter Verwandter, die sich um mich, die Kriegsheldin, vor den Augen der tschechoslowakischen Öffentlichkeit nicht kümmern konnten.

Erst Jahre später, als ich selbst Mutter wurde, begriff ich die Folgen dessen, was damals geschehen war. Seit jener Zeit habe ich diese schrecklichen Träume, seit jener Zeit kann ich mich erinnern, wie sie mich meiner echten Mutter entrissen haben. Und trotzdem verwebt sich in ihr Gesicht noch immer das meiner deutschen Mutter, dagegen kann ich nichts tun.

Und noch etwas – es zu sagen fällt mir alles andre als leicht.

Nur damit ihr es wisst: Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob ich ihnen nicht dankbar sein sollte. Das ist so ein eigenartiges Gefühl, so eine seltsam beklemmende Verwirrung, weil ich genauso gut weiß wie ihr, dass es etwas Schlechtes ist, ihnen gegenüber so etwas zu empfinden – denn schließlich leben wegen ihnen meine Eltern, meine Geschwister, Freunde und Nachbarn nicht mehr. Aber ich, ich lebe wegen ihnen. Wegen ihnen konnte ich selber Kindern das Leben schenken, meiner Arbeit nachgehen, mir mein Haus und meinen Garten schaffen – all die Freuden und Sorgen des Lebens erleben. Mit dem Verstand jedenfalls kann ich dieses Gefühl nicht bezähmen. Das Einzige, was hilft, ist nicht daran zu denken. Aber wie viele Dinge, an die zu denken ich mir verbiete, gibt es in meinem Leben nicht schon? Ja, ich bin müde, ich kann nicht mehr.

 

Auferstehung

Jede dieser Geschichten hallte in dieser sonnigen, auf den ersten Blick so unschuldigen Landschaft wieder. Wurde mir gleichsam vernehmlich.

Ich stand mitten in dem Gelände, das heute Gedenkstätte ist, nur wenige Schritte von dem alten Birnbaum entfernt, nicht weit vom Lidicer Bach, und dachte über jedes einzelne dieser Schicksale nach, die alle zusammen eine der erschütterndsten Tragödien unserer Geschichte sind. Und auch, zu welchem Ende das alles geführt hatte, auch darüber dachte ich nach.

War es ein Sieg, Lidice von der Erdoberfläche gefegt zu haben? Hatten sie damit ihr Ziel erreicht?   

Nur ein kleines Stück weiter erstreckt sich ein großer Rosengarten.

Zwischen den blühenden Beeten entlang zogen an diesem Tag drei Prozessionen, angeführt von schönen jungen Frauen in Weiß, in deren Schleiern der Sommerwind spielte. Lachende Hochzeitsgäste.

Dies plötzliche Bild war eine Antwort. Die Hochzeitsfeier, dieses Symbol neuen Beginnens, diese Feier der Liebe, verbunden mit dem Versprechen zukünftiger Fruchtbarkeit, war der beste Beweis, dass die Vernichtung von Lidice nicht gelungen war.

In diesem Moment war es, als würde über dem Gelände von Lidice jener anrührende Versuch der englischen Bergleute in Erfüllung gehen, die schon im Kriegsjahr 1942 Lidice shall live! in die Welt gerufen hatten, als würde sich erfüllen, was die Bürgermeister überall auf der Welt im Sinn hatten, als sie eine ihrer Straßen nach Lidice benannten, was Tausende Eltern beschworen, wenn sie das Gedenken an Lidice im Namen ihres Kindes einschrieben. All diese Gesten waren  unendlich wichtig – sie haben gezeigt, dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen war, Lidice von der Landkarte und aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen, sie hielten den Glauben an Lidice wach, bis in einem neu gegründeten Dorf eine neue Generation heranwuchs.  

Den Blick auf den Rosengarten gerichtet, fühlte ich eine geheime Scham.

Warum hatte ich so lange nicht gesehen, wie wichtig Lidice ist? Woher das Desinteresse am Schicksal seiner Bewohner?

Die achtziger Jahre gingen mir durch den Kopf, die allgegenwärtige kommunistische Propaganda. Lidice, Lidice, Lidice. Alle haben wir diesen Namen tausende Mal gehört. Und dennoch war es, als hätte die knatternde rote Fahne dieses durch nichts zu rechtfertigende Unrecht davon geweht. Das, worum es eigentlich ging, haben die beredten Parolen uns Schülern nicht nahe gebracht. Wir nahmen sie grundsätzlich nicht zur Kenntnis, denn sie wurden von den gehorsamen Händen aktiver Genossinnen ans Wandbrett gepinnt. Als hätte man aus Lidice ein unbeliebtes Märchen gemacht, dessen allzu häufige Wiederholung die echten Figuren in unwirkliche verwandelt hatte. Als hätte man ihnen den Körper genommen und auch das Blut, das sie vergossen haben.

Das alles begriff ich erst an diesem Sommertag, beim Blick auf die zunächst so unschuldig wirkende, jungfräuliche Gegend, ich begriff, dass dies hier ebenjenes Stück Erde wäre, auf dem früher einmal das vermeintliche Märchendorf stand. Auf dem die vermeintlichen Märchenfiguren tatsächlich gelebt hatten. Begriff, dass ihr Schicksal das Schicksal von Menschen war, Menschen wie den Sucháneks, wie Miluška und Jarka, wie Pater Štermberk und Herr Petřík, der Lehrer, wie Frau Šroubková und ihrer Tochter Maruška, die man ins Gas geschickt hat.

Am Spätnachmittag, als ich ein letztes Mal über diese weite, leere Wiese ging, war mir, als griffe mir unter dem weichen Gras hervor die Geschichte selbst an die Knöchel. Denk nach und vergiss nicht, flüsterte sie.

Seit diesem Tag weiß ich, dass Lidice auch in mir weiterlebt. In meinem Innern habe ich ihm einen Kreuzweg errichtet.

                                                                                                Deutsch von Kristina Kallert

 

Kateřina Tučková wurde 1980 in Brünn geboren. Sie studierte Kunstgeschichte  und Tschechische Sprache und Literatur an der  Masaryk-Universität in Brno, mittlerweile studiert sie an der Karls-Universität in Prag.

Für den Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ (Tschechisch: „Vyhnání Gerty Schnirch“) erhielt Kateřina Tučková den Preis  Magnesia Litera 2010 (Buchklub – Preis der Leser) und wurde für den Josef-Škvorecký-Preis, den Preis Magnesia Litera für Prosa und den Jiří-Orten-Preis nominiert. Kateřina Tučková sorgte mit diesem Roman für Aufsehen in der Tschechischen Republik, weil sie darin die Vertreibung der Deutschen aus Brünn thematisierte. Die Übersetzung ins Deutsche ist in Vorbereitung. Im März 2012 veröffentlichte die Autorin den Roman „Die Göttinnen von Schitkowa“ („Žítkovské bohyně“), eine faszinierende Geschichte über die weibliche Seele, über Magie und verschüttete Teile unserer Geschichte, der 2012 ebenfalls für den Josef-Škvorecký-Preis nominiert ist.

http://www.katerina-tuckova.cz/Deutsch/Deutsch.html