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23.01.2013, 13:59 Uhr
Bernhard Setzwein
Text & Debatte
Im Juli 2012 trafen sich vier tschechische und vier deutsche AutorInnen in Lidice, um den Gedächtnis-Ort kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Die Essays erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Lidice-Austausch]: Lidice und das Erinnern

„Alles hängt am Gummiband der Perspektive.“
Bohumil Hrabal, Die schöne Poldi

I.

DAS ERINNERN an Lidice muss beginnen mit dem Erinnern an Reinhard Heydrich. An den Mann, der die Wannseekonferenz im Januar 1942 leitete, mithin also an entscheidender Stelle für die Bereitstellung einer reibungslos funktionierenden Logistik sorgte, um jenes sechsmillionenhafte Morden ins Werk zu setzen, das die Nationalsozialisten menschenverachtend und zynisch die „Endlösung der Judenfrage“ nannten. Als „stellvertretenden Reichsprotektor“ sehen manche in Heydrich den zweiten Mann innerhalb der Hierarchie der NS-Gewalt- und Greuelherrschaft gleich hinter dem Führer. Dieser weder kalt- noch eis-, sondern einzig steinherzig zu nennende Kriegsverbrecher und Schreibtisch-Massenmörder (Eis lässt sich erweichen, Stein nicht), nahm sich für sein Herrschaftsgebiet, das Protektorat Böhmen und Mähren, vor, die „totale Kontrolle über die eroberten Bevölkerungen“ auszuüben und die „völlige Vernichtung aller kulturellen, politischen und rassischen Elemente, die sich nicht mit der nationalsozialistischen Weltanschauung vereinbaren lassen“, strikt durchzuführen (Robert Gerwarth in seiner Heydrich-Biographie).

„Alle, die so reden und schreiben, können sich gewiß nicht vorstellen, daß Reinhard Heydrich tatsächlich ein ganz anderer Mensch gewesen ist.“

„Alles hängt am Gummiband der Perspektive“, schreibt Bohumil Hrabal als Schlusssatz seiner Erzählung über „Die schönen Poldi“, jenem Stahlwerk Leopoldine in Kladno, wo nicht nur Hrabal zwischen 1949 und 1952 schuftete, sondern nur wenige Jahre vor ihm neun Männer aus Lidice, die man beinahe bei der vollständigen Liquidierung des Dorfes vergessen hätte, weil sie nämlich in den der „Schönen Poldi“ zuliefernden Kohlegruben von Kladno gerade ihre Nachtschicht ableisteten. Natürlich entdeckte man das „Versehen“ und erschoss die Männer den Tag darauf, ebenso wie jene zwei Halbwüchsigen, bei denen man nachgerechnet hatte, dass sie doch schon wenige Tage älter als 15 Jahre waren. Der Befehl lautete nämlich, daß alle Männer von Lidice – und als ein solcher galt, wer über 15 war – an der Mauer des Gehöfts der Familie Horák zu erschießen seien. (Was hätten eigentlich diese völlig ungerührt und kalt rechnenden Bürokraten des Todes mit jemandem gemacht, der exakt am 10. Juni 1942, dem Tag der „Strafaktion“ gegen das Dorf Lidice, seinen 15. Geburtstag gefeiert hätte?) Die Vollstrecker dieser Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf Heydrich bewiesen, dass sie die Lektionen ihres Reichsprotektors perfekt verinnerlicht hatten. Sie lauteten, siehe oben, totale Kontrolle und vollständige Vernichtung, und schon allein deshalb durfte es kein zufälliges Übersehen, kein gnädiges, generöses, über Leben und Tod herrschaftlich bestimmendes Davonkommenlassen geben.

„Von alledem hat Reinhard nichts mehr erfahren, und wenn dennoch Lidice immer in einem Atemzug mit seinem Namen genannt wird, kann ich dies nur als Folge einer geschickten Propaganda bezeichnen.“

Gummiband der Perspektive also! Ich hasse diesen Satz von Bohumil Hrabal, obwohl ich normalerweise jeden seiner Sätze liebe, jeden einzelnen. Auch in diesem Fall wird man zwar sagen müssen, er hat recht, er sagt, was Sache ist, er spricht, worüber man sprechen kann (der Vater des Philosophen Ludwig Wittgenstein gründete übrigens die „Schöne Poldi“ in Kladno, und der Onkel von Heimito von Doderer baute das Zweigwerk in Komotau), alles hängt am Gummiband der Perspektive, aber man wird wohl genauso gut die Richtigkeit dieses Satzes hassen dürfen. Warum? Weil er Darstellungen wie diese möglich macht:

„Man stieß bald auf ein Bergarbeiterdorf, das nur 110 Einwohner zählte. 100 von ihnen waren nur gemeldet. Es war Lidice. Endlich hatten wir einen Anhaltspunkt. Festgestellt wurde augenblicklich, daß sie [sic!] hier Agenten aufgehalten hatten. Erregung und Unruhe waren gewachsen. Gewalt ist das letzte Wort. Das Dorf Lidice wird vernichtet. Die Männer werden erschossen, die Frauen ins Gefängnis verbracht, die Kinder in Heime ins Reich transportiert.“

Diejenige, die solches schrieb, war die Witwe des Reichsprotektors, war Lina Heydrich. 30 Jahre nach den Geschehnissen in Prag und Lidice hat sie jene nun schon dreimal zitierten Ungeheuerlichkeiten zu Papier gebracht … Papier ist nämlich nicht nur geduldig, Papier muss sich manchmal genauso erniedrigen, beschmutzen und schänden lassen wie Menschen. Man konnte in den 1970er Jahren wissen oder ohne die geringsten Schwierigkeiten eruieren, wie viele Einwohner Lidice tatsächlich gehabt hat. Man musste nicht schreiben „110“ und überdies behaupten, die Kinder von Lidice seien „in Heime ins Reich“ transportiert worden. Längst war bekannt, dass von den 105 Kindern des Dorfes 82 in dem polnischen Lager Chelmno mit Auspfuffgasen umgebracht worden waren. Wenn man solches trotzdem schreibt, funktioniert man das Gummiband seiner Perspektive zu einer Zwille der Verhöhnung um und schießt den Opfern die unerträglichsten Zynismen mitten ins Gesicht. Aber auf Verhöhnung scheint diese schwarze Witwenschrift es ja angelegt zu haben. Allein schon wie sie daherkommt. Mit dem Hochzeitsfoto des Ehepaares Heydrich auf dem Umschlag, dazu in roten Lettern der Buchtitel „Leben mit einem Kriegsverbrecher“. Lässt sich das – gerade in Kombination mit der familienalbenhaften Arglosigkeit des Fotos – anders verstehen als ein zynisch-schnippisches „Und wenn schon!“? Nicht umsonst genießt dieses Elaborat in rechtsradikalen Kreisen den Status einer Art „braunen Mauritius“, begehrt auf der ganzen Welt, teuer gehandelt im Internet. Bleibt eigentlich nur mehr die Frage: Wer druckt so etwas?


II.

MITTLERWEILE WEISS ICH es, weil ich das Buch gelesen habe und folglich auch das Impressum mit der Verlagsangabe sehen konnte. Als mein Blick darauf fiel, stockte mir der Atem. Weil da stand jene Verlagsangabe, die auch in einem meiner Bücher steht, mit einer kleinen Abweichung: Verlag W. Ludwig, Pfaffenhofen/Ilm. Bei mir im Impressum heißt der Verlagssitz „München“, weil zu diesem Zeitpunkt das Unternehmen bereits veräußert worden war, an die Verlagsgruppe der Süddeutschen Zeitung, zu der unter anderem List und Süddeutscher Verlag gehörten, immerhin mit Autoren wie Oskar Maria Graf im Programm. (Hätte mal besser er, der das tschechischoslowakische Exil seine „guten, glücklichen Jahre“ nannte, den bislang einzigen „Lidice“-Roman geschrieben, das Ergebnis wäre, behaupte ich, kein solch total verunglücktes geworden wie im Falle der völlig unangemessen zwischen Satire und Groteske schwankenden Rollenprosa Heinrich Manns, die dieser, das sei vielleicht zu seiner Entschuldigung gesagt, nur wenige Monate nach den Ereignissen jener schrecklichen Greuelnacht 1942 niederschrieb, und zwar im fernen Amerika, wo er mit ausreichenden Informationen offensichtlich nicht versorgt war.) Nichtsdestotrotz muss ich nun leben mit dieser mir höchste Pein verursachenden Tatsache, zumindest nominell im selben Verlags-Gesamtprogramm aufzutauchen wie dieses Un-Buch.

Jahre später wurden Lina Heydrichs Erinnerungen an ihr Leben mit einem Kriegsverbrecher noch einmal neu aufgelegt – von einem Verleger, der bereits wegen Volksverhetzung vorbestraft ist. Dem dürfte es geschuldet sein, dass der Kriegsverbrecher nun nicht mehr "Kriegsverbrecher", sondern schlicht und einfach "Reinhard" heißt.

Doch wie kam das Manuskript dazu überhaupt nach Paffenhofen? Nach Aussage von Michael Ludwig, Sohn des damaligen Verlegers Wilhelm Ludwig, soll es Werner Maser in den Verlag gebracht haben. Maser gilt als nicht unumstrittener früher Biograph Hitlers, er war der erste Historiker, der das Hauptarchiv der NSDAP auswerten durfte. Er wurde auch von Wilhelm Ludwig gebeten, die Ausführungen Lina Heydrichs in einem Anhang zum Buch zu kommentieren … der Verleger selber schob eine wenige Zeilen lange Nachbemerkung ein, man veröffentliche das Buch lediglich als „zeitgeschichtliches Dokument“. Bei Werner Maser heißt es, er habe Lina Heydrich auf eine Vielzahl faktischer Fehler in ihrer Darstellung aufmerksam zu machen versucht. Sie habe sich aber geweigert, entsprechende Dokumente zur Kenntnis zu nehmen. Masers lapidarer Bemerkung hierzu: „Manche Behauptungen bedürfen nicht der Kommentare des Historikers, sondern eher der Deutungen des Psychologen. Zu einem solchen Schritt konnte sich der Verlag jedoch nicht entschließen.“ Ein bemerkenswerter Satz, dieser zweite. Fakt jedenfalls bleibt: Psychologisch ungedeutet erschienen die Erinnerungen der Heydrich-Witwe, die nichts anderes sind als eine einzige Hagiographie ihres Ehemannes. Es fallen darin Sätze wie „ich glaube, er wollte sich selbst opfern“, und einmal zitiert sie ihren Ehemann, diesen „aufopferungsvollen Tatmenschen“, mit den Worten: „,Ich muß es tun. Nur ich kann es, die anderen können es nicht.‘“ Unter anderem nämlich den Massenmord an den Juden zu organisieren, als Leiter der Wannseekonferenz.


III.

UM EINEN SOLCHEN MENSCHEN zu „rächen“, mussten also die Bewohner von Lidice sterben. Doch warum traf es ausgerechnet dieses Dorf? Weil es irgendeines sein musste. Wenn nicht Lidice, dann ein anderes. Die Deutschen konstruierten Begründungen. Zwei junge Männer aus dem Dorf, die bei der Royal Air Force als Piloten tätig waren, sollten als Beweis für die Verwicklung Lidices in die Attentatspläne, die man der tschechoslowakischen Exilarmee zuschrieb, herhalten. Und dann gab es da noch eine zweite „Fährte“, die den Bluthunden von SS und Gestapo sofort in die Nase stieg, eine aberwitzigen Episode, die einmal mehr zeigt, wie große Weltgeschichte oft in allerkleinsten Privataffären ihren Ausgang nimmt. Ich wollte die Geschichte erst gar nicht glauben, als ich sie das erste Mal las. Bei unserer Begegnung mit der überlebenden Zeitzeugin Frau Marie Šupíková im Dokumentationszentrum von Lidice, wo uns die über Achtzigjährige in ungemein berührender Weise von ihrem Lebensweg voller Grausamkeiten und Absurditäten erzählte, fragte ich sie danach, und sie bestätigte uns allen, dass auch ihr Schicksal von diesem grausamen Witz der Weltgeschichte abhing. Es soll da einen tschechischen Filou gegeben haben, einen Schwerenöter, auch Tschechen sind manchmal einfach bloß Herzensbrecher. Und dieser Mann, obwohl verheiratet, unterhielt ein Verhältnis zu einer Arbeiterin in der Batteriefabrik von Slany, knappe 10 Kilometer nördlich von Kladno. Die geheime Liebschaft wurde ihm zu brenzlig. Und so nahm er die allgemeine Aufregung in den Tagen nach dem Attentat auf Heydrich zum willkommenen Anlass, seiner Geliebten in einem Brief vorzuflunkern, er müsse nun eine Zeitlang untertauchen und man werde sich nicht mehr sehen können. Überdies richtete er einen Gruß der Familie Horák aus Lidice aus, die er offensichtlich persönlich gar nicht kannte. Ein Sohn der Familie, Josef Horák, war jedoch eines dieser beiden schon erwähnten Mitglieder der tschechoslowakischen Auslandsarmee. Der Liebesbrief kam in die falschen Hände, fertig war die Legende vom aufgedeckten Komplott. An der Außenmauern des Gutshofes der Familie Horák wurden die 172 Männer aus Lidice erschossen, die man in der Nacht von 9. auf den 10. Juni zusammengetrieben hatte. Darunter übrigens ein Junge von lediglich 14½ Jahren, der Vater hatte ihn schnell mit sich gezogen, weil er ihn nicht bei der kranken Ehefrau zurücklassen wollte. Er konnte ja nicht ahnen, was man mit den Zusammengetriebenen vorhatte.

Umrisse von Horáks Hof in Lidice

Reinhard Heydrich hat von dieser Liebesbriefgeschichte nichts mehr mitbekommen. Eine Woche nach dem Attentat starb er an dessen Folgen im Krankenhaus „Na Bulovce“, das ist jenes Spital, aus dessen 5. Stock 45 Jahre später Bohumil Hrabal in selbstmörderischer Absicht in den Tod sprang, so jedenfalls will es mir als einzig einleuchtend erscheinen, allen Taubenfüttergeschichten zum Trotz. Hätte Heydrich die Geschichte um die Ausrede des Doppelliebhabers erfahren, wäre er vielleicht an seine eigene Vergangenheit erinnert worden. 1931 war er nämlich als 27jähriger Oberleutnant aus der Reichsmarine entlassen worden, unwürdig einer solchen Stellung, weil sich herausgestellt hatte, dass er, während er sich mit Lina verlobte, bereits einer anderen Frau das Eheversprechen gegeben hatte. Von nun ab übernahm die erst 20jährige Ehefrau Führung und Formung ihres Mannes, sie, die aus einer extrem rechts geprägten Familie stammte, galt zu diesem Zeitpunkt schon als überzeugte Nationalsozialistin und Antisemitin, während Heydrich bei der Marine noch als unpolitischer Sonderling beschrieben wurde. Es dauerte nicht lange und er wurde von Heinrich Himmler „entdeckt“ und engagiert, um ihm zu helfen, eine Art Geheimdienst innerhalb der SS aufzubauen, den sogenannten „Sicherheitsdienst“, eine „verbrecherische Organisation“, wie das Nürnberger Kriegsgericht später feststellte, die ganz wesentlich die Verfolgung aller „Feinde“ der Nationalsozialisten betrieb, allen voran der Juden.


IV.

NACH 1945 SPRACH die neugegründete Bundesrepublik zunächst Lina Heydrich die Witwenrente ab, aufgrund der Verbrechen ihres Mannes. Bezeichnenderweise war der aber nie als Kriegsverbrecher eingestuft und verurteilt worden, einen Toten kann man nun mal nicht vor Gericht stellen, auch nicht vor das Nürnberger Kriegsgericht. Lina Heydrich prozessierte gegen die Aberkennung ihrer Rente, drei Jahre lang, und gewann schließlich die Auseinandersetzung vor dem Landessozialgericht Schleswig. In der Urteilsbegründung hieß es, ihr Mann sei in Folge von Kriegshandlungen den „Soldatentod“ gestorben und deshalb stehe ihr die Rente zu. Bis zu ihrem Tod 1985 erhielt Lina Heydrich wieder Bezüge in Höhe einer Generalswitwenrente. Ihren Lebensabend bestritt sie damit, dass sie auf der Ostseeinsel Fehmarn die Pension „Imbria Parva“ betrieb und dort Treffen ehemaliger SS-Kameraden organisierte, um, wie Heydrich-Biograph Robert Gerwarth schreibt, „Erinnerungen an bessere Zeiten auszutauschen“.


V.

UND WENN WIR SCHON beim Erinnern sind, noch dies: An Heinz Heydrich, den jüngere Bruder von Reinhard, könnte man auch erinnern. Wiewohl zuerst auch Obersturmführer der SS vollzog sich mit ihm eine merkwürdige Verwandlung. Nach der Beerdigung seines Bruders Reinhard wurde Heinz ein umfangreiches Konvolut an Papieren seines Bruders übergeben. Man nimmt an, es waren unter anderem Akten, die mit der Wannseekonferenz und der „Endlösung“ zu tun hatten. Heinz sperrte sich ein und las die Papiere. Danach verbrannte er sie. Von da ab verschaffte er einigen Juden falsche Pässe und verhalf ihnen zur Flucht. Im Dezember 1944 beging Heinz Heydrich Selbstmord. Man könnte annehmen, weil ihn die Last seines Mitwissertums erdrückte. Es gibt aber auch noch eine andere Begründung, die lautet, er habe lediglich einem Kriegsgerichtsprozess entgehen wollen, ihm drohte eine Anklage wegen Diebstahl und Korruption.

Allerdings stammt diese Version ausgerechnet von Reinhard Heydrichs eigenem Sohn Heider, und der dürfte nicht gut zu sprechen gewesen sein auf seinen Onkel. Denn Heinz Heydrichs Sohn Peter wiederum hat nach dem Krieg über die Familie Reinhard Heydrichs gesagt, womit er nicht nur die Mutter, sondern auch die nächste Generation der Kinder meinte: Sie fühlten nichts und hätten nie etwas gefühlt. Nie hätte es eine Geste gegenüber den Opfern, darunter zum Beispiel die überlebenden Kinder von Lidice, gegeben.