Gespräch mit Hans Pleschinski anlässlich der Tagung zu seinem Werk (Teil I)

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© C. H. Beck

Im Januar 2018 erschien der Roman Wiesenstein des Münchner Autors Hans Pleschinski. Das Buch erzählt die letzte Lebensphase des Schriftstellers Gerhart Hauptmann und sorgte nach dem Thomas-Mann-Roman Königsallee (2013) wieder für große Aufmerksamkeit bei Publikum und Medien. Zum vielfältigen Gesamtwerk von Hans Pleschinski findet am 15. Juni 2018 eine öffentliche und interdisziplinär ausgerichtete Tagung unter dem Titel „Eleganz und Eigensinn. Das Werk von Hans Pleschinski“ in den Räumen der Monacensia im Hildebrandhaus statt. Das Literaturportal Bayern wird darüber berichten. Im Vorfeld der Tagung haben die Organisatoren Dr. Laura Schütz und Dr. Kay Wolfinger (beide LMU München) den Autor Hans Pleschinski interviewt.

*

Wir beginnen in den ‚goldenen Achtzigern‘. Wie lässt sich die Geburt des Schriftstellers als Leser erklären? Da gibt es diese schöne Selbstbeschreibung, wie Sie als Schriftsteller in München angekommen sind und auch an der Uni und wie Sie an allen diesen Orten immer lesend angetroffen wurden.

Hans Pleschinski: Tagsüber, ja.

Sie schreiben über diese Zeit: „Hallmann, Silesius – alles bei Reclam erschienen – las ich im Münchner Hofgarten, auf den Zementstufen des Germanistischen Instituts oder auf dem Fensterbrett meiner Studentenbleibe. Phasenweise las ich überhaupt täglich eines der gelben Heftchenbücher, aus denen die Literaturgeschichte, also die immer lebendige Dichtung in all ihren Formen und Anläufen – ob nun barock, romantisch oder expressionistisch –, über den Leser in das Leben flutet und brandet.“[1] Welchen Stellenwert hat diese Lesesozialisierung für die eigene Schriftstellerwerdung? Und welche Autoren waren Ihnen da besonders wichtig?

Mein Schreiben begann nicht in München, auch nicht durch Lektüre. Das Studium war aber ein unglaublicher Schub, wie wenn eine Dampflok in Gang gesetzt wird, beladen mit Literatur, die ich vorher nicht kannte. Ich hatte schon früher geschrieben, so ab 14, zuerst historische Romane umgeschrieben, andere Orte, andere Namen eingefügt, und dann im Zivildienst in Celle im Johanniterheim meinen ersten Roman geschrieben – über die Menschen, die dort lebten, zumeist Adelige aus den Ostgebieten –, mit dem Manuskript kam ich nach München. Und noch bevor ich das Studium richtig begann, habe ich Verlage aufgesucht, einfach nach dem Branchenverzeichnis, war auch aus Versehen in einem Katzenbuchverlag und habe mein Buch angeboten. Ich wusste nichts vom Literaturbetrieb und merkte, die warten nicht unbedingt darauf, dass jemand kommt mit einem Manuskript. Aber es waren freundliche Begegnungen, mit einer wichtigen Verlegerin, Antje Ellermann von Rogner & Bernhard, ich klingelte wohlgemut und wurde gleich zum Essen eingeladen. Daraus entwickelte sich ein gewisser Kontakt und das half weiter. Also ich schrieb permanent. Es gibt ja auch etliche unveröffentlichte Romane aus jener Zeit, so drei oder vier, auch voluminöse, und es gab gar keinen Zweifel, dass ich schreiben will, muss und irgendwann etwas funktionieren wird, wobei mir Dinge wie Verlagsrenommee, Umschlag völlig egal waren. Es sollte gedruckt sein: Titel, Name, Verlag, mehr war doch nicht nötig! Dann lernte ich fördernde Menschen kennen, Volker Kinnius und die Wiener Schauspielerin Anne Mertin, die mich dann zum Beispiel Hilde Spiel vorstellte. Oder ich lernte Martin Walser kennen in einem Künstlercafé, wusste aber nicht, dass er Schriftsteller ist. Ich habe den ganzen Abend mit seiner Frau gesprochen. Also solche Narreteien kamen auch zustande. Dann schrieb ich eine Spanien-Novelle, Zerstreuung. Es war ein sehr frühes und bewusstes Manifest der Postmoderne.

Zerstreuung erschien aber erst 2000, oder?

Die Novelle erschien 24 Jahre später. Das Manuskript schickte ich an Botho Strauß, den ich sehr bewunderte wegen seiner Theaterstücke, der Modernität und Eleganz seiner Sprache. Er antwortete auch tatsächlich. Es sollte eine Lesung in Berlin stattfinden, im Arsenal-Kino, dem berühmten Arsenal-Kino, und er schrieb zurück: Nein, er gehe generell nicht zu solchen Veranstaltungen, aber er lobte das Buch sehr und das hat mir sehr viel Kraft gegeben, dieses Lob von Botho Strauß. Es fand also meine erste Lesung aus einem unveröffentlichten Roman in Berlin statt, alles hochaufregend. Und parallel dazu immer das Studium, die Lektüre in München. Dabei öffneten sich gewaltige Tore in unterschiedliche Reiche, in die Barockliteratur natürlich, die ich vorher nicht kannte, ein Faszinosum, ein feuriges Labyrinth, dann in der Romanistik französische Literatur, der Nouveau roman, der mich ungeheuer faszinierte. Dabei immer die Frage, und das war mir sehr wichtig: Was schreibt man selbst, wenn die Literatur so weit fortgeschritten ist wie bei Beckett oder im Nouveau roman, wie kann man dann überhaupt noch modern sein und Geschichten erzählen? Das war über viele Jahre die brennende Frage: Wie wird man nicht altmodischer als Flaubert, und das bestimmte auch die literarischen Gespräche abends: Modernität! Rimbauds Ausruf: „Il faut absolument être moderne.“ Die Uni lieferte dazu wenig Diskussionsraum, und dann entstanden eben diese frühen Werke und die Abwendung von der Innerlichkeitsliteratur durch Gabi Lenz. Ganz entscheidend war auch noch André Gide für mich. Flaubert hinterfragt jede Wahrheit. Weil es keine gibt, hat Gide Methoden künstlichen Erzählens erfunden, eine Art Kampf um Wirklichkeitsdarstellung, ohne dass man banal wird. Beckett blieb immer eine Herausforderung: Wie kann man nach dem Verstummen im Absurden Theater überhaupt noch etwas Zusammenhängendes und Glaubwürdiges schreiben? Das war alles hochspannend, hat mich elektrisiert, einige andere Studenten auch noch, aber das Meiste focht ich mit anderen Literaturkennern aus, außerhalb der Uni in Gesprächen, und vor diesem Hintergrund entstand auch der erste Satz von Nach Ägyppten, von dem es 15 Fassungen gibt: „Die Witterung machte schachmatt“, lautete die erste. Aber nach Flaubert, nach Beckett und nach dieser radikalen Infragestellung von Behauptungen musste mein Satz brüchiger werden: „Im Allgemeinen machte die Witterung unter Umständen schachmatt.“ Also, man stellt etwas in Rechnung, vermeidet die plumpe Behauptung, lässt offen. Das war der ästhetische Ausgangspunkt über all die Jahre. So arbeitete ich mich mit Literaturfreunden voran. Dieses Theoretisieren hat im Laufe der Jahre bis heute kontinuierlich abgenommen und ist nun fast gänzlich verschwunden. Es gibt so viel zu erzählen und darzustellen, dass im Allgemeinen die Literaturtheorie dabei ganz erstorben ist.

Ist das Ihr Eindruck vom literarischen Schreiben heute?

Ja, bei der Gegenwartsliteratur. Sie ist haptisch. Es wird drauflos geschrieben. Es gibt keinen Konsens mehr, ästhetischer Art, meine ich. Das Schreiben mit theoretischem Hintergrund ist erloschen. Die Universität bedeutete in erster Linie Leseanregung – die Freude, zwischen Buchwelten zu sitzen, ohne dass dabei ich biblioman wurde. Das wollte ich auch nicht werden. Aber ich empfand es als Luxus innerhalb dieser zweckhaften Welt, und das Studium war auch nicht so eng getaktet wie heute vermutlich.

Können Sie den Weg nochmal schildern zu Ihrem ersten Verlag, dem Haffmans Verlag? Das war ja wohl eine sehr interessante Zeit. Sie haben uns das mal erzählt bis hin zu Besuchen am Starnberger See privater Natur. Können Sie diese Anekdoten nochmal erzählen?

Ich erzähle wohl auch gerne anekdotisch. Also ich schickte die entstandenen Bücher natürlich an Verlage. Man bekam auch meistens eine Antwort, eine abschlägige Antwort, aber das hat mich überhaupt nicht erschüttert. Gar nicht. Und wegen derselben Portomenge habe ich das Manuskript von Gabi Lenz nach Zürich geschickt an den Diogenes Verlag und an den neuen Haffmans Verlag. Dann kam erstaunlicherweise vom Diogenes Verlag nicht nur eine Zusage, sondern der berühmte Verleger Daniel Keel kündigte sogar seinen Besuch bei mir an, war in München in meiner Studentenbude und lud mich dann großartig zum Essen ein. Das war überwältigend. Er stellte einen Werbeetat von 40.000 Franken in Aussicht – wunderbar. Und dann kam zwei, drei Tage später eine Ansichtskarte von Gerd Haffmans, er würde das Buch gerne drucken. Also plötzlich zwei Zusagen. In meiner Ratlosigkeit war ich in der damals höchst lebendigen Autorenbuchhandlung – ich ging dort oft wöchentlich hin zu Lesungen. Die Leiterin, Inge Poppe, eine Größe im Münchner Literaturbetrieb, riet zum Haffmans Verlag. Sie meinte, der ist neu, der hat viel Aufmerksamkeit. Falls das Buch kein so großer Erfolg wird, ist es nicht so schlimm, wie wenn es bei Diogenes groß angekündigt wird und absackt. Und dann kündigte Herr Haffmans seinen Besuch an, auch bei mir in der Studentenbude, und sagte: Heute Abend ist noch bei meinem Schwiegervater ein Essen, wenn Sie dazu kommen wollen, gerne. In Münsing, Ammerland. Ich bin hingefahren. Man holte mich an der S-Bahn ab, Starnberg, und wir betraten dann ein wundervolles Anwesen mit Gartenpark und dort saß auf einer Korbchaiselongue mit zwei Möpsen links und rechts der Schwiegervater: Loriot. Ich ging auf Loriot zu und fiel in Ohnmacht. Das war too much. Ich erwachte dann wieder in der Küche, als Frau von Bülow mir Luft zufächelte und Wasser reichte. Es waren nur wenige Gäste geladen, Patrick Süskind mit Frau, ich, Herr Haffmans. Es wurde ein märchenhafter Abend. Sizilianischer Wein, Langustenschwänze und andere Delikatessen – Köstlichkeiten, die ich nicht kannte. Es war ein wunderbarer Auftakt des literarischen Lebens.

Großartig. Wir haben überlegt, welche thematische Genese Ihr Gesamtwerk nimmt. Sehen Sie das überhaupt eingeteilt in verschiedene Blöcke oder entwickelt sich das nach und nach? Man könnte ja sagen, alle sehen diesen postmodernen Beginn, zum Beispiel.

Zu Recht. Ich war willentlich postmodern.

Das war dann einfach auch Zeitgeist?

Ja, und trotzdem ein Kampf. Zerstreuung ist, glaube ich, das erste bewusst postmoderne Buch. Es wurde damals nicht veröffentlicht, erst später, aber das macht nichts. Das Buch war wie eine Kampfansage gegen Dumpfheit, Innerlichkeit, Verlogenheit, gegen diese klischierte Tristesse in der deutschen Literatur. Es gab diese Phase, zu der Nach Ägyppten gehört, die Satiren, der Holzvulkan. Später gab es einen unfreiwilligen Realismus-Einbruch beim Bildnis eines Unsichtbaren.

Also, das war eigentlich nicht geplant, so ein Projekt, dass es wieder realistisch wird?

Nein, das Buch war ein Todes-, ein panischer Aufschrei.

Dieses Buch hat sich dann zwingend ergeben und war notwendig in diesem Moment?

Es war das seelisch zwingend. Und es hat mich beinahe selbst umgebracht, beim Schreiben, eine Eruption.

War das Buch immer für die Publikation geplant?

Hatte ich da schon ein Buch bei Hanser? Ich glaube, Madame de Pompadour. Und dann musste ich Geschehnisse um die Aids-Epidemie aufschreiben, diese Trauerklage, auch weil ich den ersten Satz nicht loswurde: „Was geschah?“ Er zog das Buch nach sich. Diese erste, ich meinte, Selbstentblößung, in Ich-Form. Das war mir alles grauenhaft peinlich, aber ich wusste, ich musste Zeugnis ablegen. Ich habe unter solcher körperlichen Anspannung geschrieben, stundenlang an den Schreibtisch geklemmt, dass ich gegen Thrombose behandelt werden musste. Das war sehr gefährlich. Dann wurde das Buch vom Hanser Verlag und weithin mit großer Anerkennung aufgenommen und hatte überhaupt nichts Peinliches an sich. Im Gegenteil, es war eine Befreiung. Ich lernte auch die Unterscheidung, dass es persönliche und private Bücher gibt. Das Bildnis ist ein persönliches Buch, will auch objektiv sein. Dann gibt es wohl auch intime Bücher, aber das ist nicht mein Bereich. Das Bildnis hat auch für die Thematik der Homosexualität offensichtlich eine Breitenwirkung gehabt, wie auch die Königsallee, Bücher, die von Menschen gelesen werden, die sich sonst mit Gender-Fragen nicht beschäftigen. Es könnte sein, dass vor allem Königsallee eines der erfolgreichsten homosexuell grundierten Bücher der letzten Jahrzehnte ist. Das ist angenehm erstaunlich, es gibt in dem Roman – außer Katia Mann – nur erotische Grenzgänger.

Zwischen den Geschlechtern?

Ja. Also, das war der Einbruch eines unerwünschten Realismus, aber danach war ich aber auch gelockerter. Literaturtheorie wurde – auch leider – noch unwichtiger.

Und das Erzählen trat hervor?

Das reine Erzählen, sozusagen, das pure Erzählen, das ja trotzdem seine Dramaturgie braucht. Der Roman Brabant kennzeichnet einen Übergang.

Das ist früher. Anfang der 90er-Jahre.

Brabant ist auch postmodern, aber dann auch schon erzählwütig. Dieser Kulturkrimi war auch sehr schwierig zu schreiben, es gibt 70 Anfänge. Brabant hat mich auch krank gemacht. Die Anfänge habe ich teilweise noch. Sie erstickten an endlosen Dialogen. Es ging nicht voran, und ich bin selbst sprachlos geworden. Ich konnte nicht mehr reden. Ich war geschlagen. Ich konnte nicht mehr schreiben. Ich konnte das Buch nicht schreiben, ich konnte nicht mehr reden. Das war furchtbar, ich konnte kaum „Guten Tag“ sagen, für eine gewisse Zeit. Sprache war mir versperrt. Dann kam eines Abends mit Volker Kinnius der entscheidende Einfall: Es geht nicht, dass diese Europäer endlos darüber beratschlagen, ob sie nach Amerika fahren, dann versandet die Handlung im Gespräch. Das Schiff muss bereits fahren! Eine winzige dramaturgische Änderung. Wenn das Schiff fährt, dann können sie reden, was sie wollen. Es ist Bewegung da. Die Krise hatte anderthalb Jahre gedauert. Roman ist Handlung, das hatte ich vergessen. Es gab Rede-Anfänge von bis zu 80 Seiten. Tote Seiten.

Und die haben Sie noch, sagten Sie, irgendwie in der Genese? Das ist ja wie ein Archiv, das über den Text Auskunft gibt.

Ja. Und alles noch mit Schreibmaschine; die frühesten Bücher entstanden sogar alle handschriftlich.

Mit bestimmten Stiften dann oder mit Füller?

Meistens mit Füller, ja.

Und haben Sie dann Überarbeitungen einfach drübergeschrieben oder immer wieder von Neuem angefangen?

Die ganz frühen handschriftlichen Texte sind wenig überarbeitet, weil sie ja nicht erschienen, und ich habe dann etwas Neues geschrieben. Später mit der Schreibmaschine, IBM-Kugelkopf mit Korrekturband, zudem gab es Tipp-Ex, und ich hatte extra Korrekturkleidung. Die war über und über von Tipp-Ex bekleckert. Ich sah aus wie ein Malermeister. Beim Briefwechsel Voltaire-Friedrich der Große habe ich drei Schreibmaschinen kaputt getippt, gebrauchte Schreibmaschinen aus Polizeibeständen. Dreimal 600 Seiten und natürlich mit Sehnenscheidenentzündung.

Haben Sie denn immer alles selbst getippt und nicht delegiert?

An wen denn? Wenn eine Fassung fertig war, hat Volker Kinnius stets gegengelesen. Das war der erste Korrekturdurchgang, und das begann mit Nach Ägyppten. Das war der erste privat lektorierte Roman. Einige frühere überarbeitete ich dann noch, in ihnen spielt die Universität eine große Rolle. Es gibt einen Roman – auf den Titel komme ich gerade nicht – mit Münchner Studenten, irgendetwas mit Revolte ist im Titel, Süße Revolte oder so etwas, Studenten, die sich zu einem entspannten und festlichen Leben entschließen. Picknick in Nymphenburg? Jedenfalls ist ein Picknick in Nymphenburg sehr wichtig für den Roman.

An der Schlossmauer?

An der Badenburg, und zwar im Winter. Eine neue Festlichkeit sollte zum Gegenprogramm gegen eine krude Welt werden. Nein, Schloss im Januar heißt der Roman. Also die Studenten zelebrieren ihr einmaliges Dasein als Fest. Das ist die Münchner Revolte. Dann gibt es einen Nachfolgeroman, der nicht weit gediehen ist. Er beginnt zwischen Obdachlosen am Stuttgarter Hauptbahnhof – Stuttgart, weil ich es so besonders deprimierend fand, wahrscheinlich. Ich breite ein furchtbar trübes Milieu aus, aber da taucht plötzlich ein Geist der Erzählung auf, Adrian, und entführt den Leser in eine lichtere Welt. Es blieb bei einem langen Entwurf, aber er ist ein Widerspruch und Einspruch gegen das Niederdrückende, gegen manches Klischee von unserem elenden Dasein. Mein Ringen um mehr Lebensbejahung hat vielleicht auch ein bisschen Erfolg gehabt, glaube ich, in der deutschen Literatur oder bei meinen Lesern: Das Verhärmte war mein Feind. Damals waren die Menschen auch nicht verhärmt, aber sie haben solche Kunst gemacht oder solche Literatur. Deutschland sei Trübsal – ich hasste dies Gejammer. Ja, Das Schloss im Januar, und der Geist der Erzählung, den Titel weiß ich nicht, das entstand damals. Und schließlich Gabi Lenz, mit dieser Satire wollte ich eigentlich Abschied von der Literatur nehmen. Noch einmal kurz das Sauertöpfische anprangern. Gabi Lenz wurde dann meine erste Buchveröffentlichung und sofort ein beachtlicher Erfolg. Was soll man da noch sagen?

Bei Gabi Lenz und dem Ausstellen von Sprachfloskeln merkt man doch auch den Einfluss der ‚Neuen Frankfurter Schule‘, auch über den Haffmans Verlag.

Die kannte ich gar nicht.

Also Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt und andere?

Waren mir unbekannt. Und sie waren ja auch noch jünger. Die Frankfurter lernte ich erst im Verlag kennen. Und deswegen hat Haffmans mich wahrscheinlich genommen, weil ich dazu passte, nehme ich an. Wir alle kämpften gegen Mief. – Hochpostmodern ist natürlich auch Pest und Moor. Freies, lustvolles Erzählen. Im selben Jahr erschien damals Der Name der Rose, das Mittelalter kam in Mode, zum Fabulieren, für wilde Geschichten, die Gegenwart sprengen. Bei Pest und Moor kündigte ich dem Verleger an, dass es ein Roman ist, der in einer Zeit spielt, die bisher niemanden interessierte, in einer Landschaft, Hinterpommern, die keiner kennt, und mit einer Handlung, die schrill, fast wahnsinnig ist. Eine Markgräfin erfindet 1348 die Elektrizität. Das fand er exzellent, mutig. So wurde Pest und Moor 1985 zum Haupttitel im Verlagsprogramm und verkaufte sich sehr gut – ich glaube, 16.000 Exemplare, obwohl es nur zwei oder drei Besprechungen gab. Damals wurden noch generell höhere Auflagen gedruckt. Es wurde mehr gelesen. Mundpropaganda spielt eine große Rolle. Ich hörte, viele Taxifahrer in Heidelberg läsen nachts Pest und Moor. Nun denn.

Würden Sie sagen, dass Sie in Ihrem Werk bei Künstlerromanen angelangt sind oder ist das auch nicht wirklich bewusst? Das werden Sie sicher oft gefragt werden mit Thomas Mann und jetzt Gerhart Hauptmann.

Ach, ich lege mich auf kein Genre fest. Themen kommen auf mich zu, ich suche sie nicht. Thomas Mann und Gerhart Hauptmann begeistern, bewegen mich aus vielen Gründen. Durch sie kann ich erzählen, was bisher vielleicht noch nicht erzählt wurde. Es geht mir auch darum, eine Gestalt wie Thomas Mann, diesen Vertreter von Humanität und Feinheit, zu feiern und bei Gerhart Hauptmann – nun, eine persönliche Tragödie zu erzählen und durch ihn auf meine Weise das Hitler-Unreich zu verdammen, auf bessere Zeiten der deutschen Geschichte zu verweisen –, wie auch mit dem Holzvulkan. Ich möchte unbedingt vergessenes Licht wieder in die deutsche Identität einbringen. Künstlerroman ist nur ein Begriff, es geht um mehr. Im Falle von Thomas Mann und Klaus Heuser konnte ich das unendlich Zart-Pikante dieser Beziehung in dem teilweise so muffigen Deutschland feiern. Und Romane sind für mich selbst Entdeckungsreisen: Ich lernte Thomas Manns Stilsicherheit neu schätzen und lernte in Gerhart Hauptmann einen vulkanischen Dichter kennen. Hochkomplexe Gestalten und Brennpunkte unserer Geschichte. – Alle Themen mögen zu einer Phase gehören.

Im Blick zurück.

Wie bei Brabant, als das dezidiert Postmoderne langsam verklang, dann folgte das Realistischere mit dem Bildnis eines Unsichtbaren und auch in Erzählungen. Ach ja, die Ostsucht, diese Kindheitserinnerungen, gehört natürlich auch zu den realistischen Büchern. Aber diese Begriffe nützen wenig. Ein Buch soll lesenswert sein und bleiben. Ich glaube, ich verfasse eher sogenannte Longseller als Bestseller. Das finde ich gut. Ausschnitte aus dem Holzvulkan sind jetzt ins bayerische Gymnasiallesebuch aufgenommen worden. Einige der Bücher haben eine erfreuliche Haltbarkeit, vielleicht auch, weil sie nicht so privatistisch geschrieben sind und übergeordnete Themen haben, was es am Anfang manchmal schwieriger macht, weil eine etwas kleinbürgerliche Betroffenheit immer noch im Schwange ist. Aber Bücher der puren Betroffenheit, also: „Klaus hatte mich verlassen, ich sprach mit Gabi darüber, aber die zog gerade nach Greifswald um, und ich fuhr erst einmal in Urlaub.“ Damit werden ja immer noch Bücher gefüllt. – Gut, alles hat sein Recht.

 

[1] Hans Pleschinski: Die goldenen Achtziger: meine Lektüren. In: ders.: Verbot der Nüchternheit. Kleines Brevier für ein besseres Leben. C. H. Beck, München 2007, S. 111-122, hier S. 112 (Erstveröffentlichung 1995).

 

Erster Teil des Gesprächs mit Hans Pleschinski am 30. April 2018 am Institut für Deutsche Philologie der LMU. Fortsetzung folgt.

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