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#MeToo: Dagmar Leupold über Political Correctness und die Freiheit der Kunst

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Sue Lyon als „Lolita" (1962)

Dagmar Leupold hat für ihr schriftstellerisches Werk etliche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr jüngster Roman Die Witwen war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dagmar Leupold lebt in München.

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Unbehagen

Unbehagen ist ein eigenartiges Gefühl: Selbst sehr deutlich, gelegentlich sogar körperlich spürbar, erwächst es aus etwas, das zunächst undeutlich, ungreifbar ist. Nicht von ungefähr sagt man, es beschleicht einen. Anders als das Freud’sche Unbehagen in der Kultur, das entsteht, weil kulturelle Anstrengungen dem Sexual- und Destruktionstrieb, der zur menschlichen Natur gehört, hemmend und transformatorisch entgegenwirken, ist mein Unbehagen politisch verortet.

Ausgelöst wurde es durch die Verquickung der #MeToo-Offensive mit Forderungen nach Political Correctness, welche wiederum die essenzielle Frage nach der Freiheit von Kunst berührt. Es entstand, obwohl ich es durchaus begrüße, dass gegen die Pathologien allzu geschlossener Räume das Outing eingesetzt wird. Aber die Summe aller Widerlichkeiten und Übergriffe (strafrechtlich Relevantes steht auf einem anderen Blatt, darum geht es hier nicht) zu ziehen, die Additionsketten durch immer neue Meldungen zu verlängern, mag notwendig sein, hinreichend ist es nicht.

Die Entstellungen, die im Zuge dieser Debatte zum Vorschein kommen, sind im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu sehen: die Übergriffe, das präpotente Gebaren und die skrupellose Selbstermächtigung der Hierarchiespitzen gegenüber den Subalternen sind deren Symptom, nicht ihre Ursache. Es ist Aufgabe der Politik, der demokratisch gewählten Repräsentanten, die Weichen so zu stellen, dass solche Entstellungen verhindert bzw. korrigiert werden. Dies kann nur geschehen, wenn Gleichheit und Teilhabe erreicht werden.

Political Correctness dagegen interessiert sich nicht für die Herstellung von Gleichheit, sie verordnet lediglich Formen und starre Sprachregelungen des sozialen Miteinanders, das eigentlich ein dynamisches Konstrukt ist, Ergebnis von zivilisatorischen Prozessen. Die Sprachregelungen und  die neuen Umgangsformen sind bloße Kosmetik: Sie treten zwar anti-diskriminatorisch auf, tasten aber den eigentlichen politischen Missstand, nämlich dass die Agorà zum Markt verkommen ist, auf dem sich nicht die Vernunft, der Gemeinsinn, sondern die Wettbewerbsstärksten breit machen, keineswegs an. In einer entstellten Gesellschaft erodiert das Prinzip der Gleichheit, werden die Möglichkeiten der Teilhabe stark eingeschränkt.

 

Teilhabe muss ausgehandelt werden

Dass die Verhinderung von Teilhabe häufig einhergeht mit der Diskriminierung Randständiger ist eine Tatsache, dennoch ist Nicht-Diskriminierung noch kein Garant für Gleichheit. Die Profiteure der Ungleichheit haben natürlich kein Interesse an einer Sanierung der Verhältnisse und bieten den Verlierern ein paar Placebos, um sie zu sedieren. Zum Beispiel in Gestalt ultrahocherhitzter medialer Debatten, in denen eben gerade nicht Solidarität und Zusammenhalt bekundet werden (oder entstehen), sondern ein Überbietungswettbewerb stattfindet.

Dieser Instrumentalisierung ist auch die durch #MeToo ausgelöste Debatte nicht entgangen: Ihre Emotionalisierung – im Bereich sex & crime – garantiert gute Auflagen und exponentiell wachsende Klicks. Zudem haben einige wenige Akteurinnen im Sinne eines Aufmerksamkeitsgenerators selbst an dieser Instrumentalisierung mitgewirkt.

Das emanzipatorische und basisdemokratische Moment, das ja eigentlich mit der Möglichkeit, jederzeit das Wort zu ergreifen, gegeben ist, wird hier insofern pervertiert, als es dem Konkurrenzdenken preisgegeben wird. Dissens ohne die Partizipation an einer Konsensbildung ist nur destruktiv und hat keine kritische Kraft.

Die Kleingeisterei, die in letzter Zeit um sich greift – auch als dümmliche pauschale Verurteilung der Frauenbewegung insgesamt –, die engstirnigen und phantasielosen Stammtischphrasen sind ganz im Sinn einer Politik, die den lupus im homo weckt, denn Vereinzelung, auch die narzisstisch geprägte, ist für sie ungefährlich. Und wirtschaftlich segensreich.

Die Politik befördert den Irrtum, dass eine Meinungsäußerung per se kritisches Potential habe. Eine Partikularisierung der Interessen aber – nach Geschlecht, nach Ethnie, nach Religionszugehörigkeit etc. – verschleiert, dass die Summe eben dieser noch kein Gemeinwesen ausmacht, verschleiert, dass Teilhabe ausgehandelt werden muss, diskursiv, politisch, und nicht aufgrund bestimmter Merkmale zugewiesen oder verwehrt werden kann.

Hier kommt die Kunst ins Spiel, und die Freiheit der Kunst. Denn sowohl in der Kunstproduktion wie auch im Kunstgenuss – Schauen, Lesen, Hören – sind wir als ganzer Mensch, fühlend, denkend, handelnd, angesprochen und kritisch gefordert. Und nicht als Träger zugewiesener Merkmale und spezifischer Symptome, Träger, die man dadurch ruhig stellen kann, dass man ihnen einzig die Kompensation eigener Defizite zubilligt. Auch in einer Demokratie haben Kunst, Kino, Musik, Tanz, Theater und Literatur die unersetzliche Funktion eines Wahrnehmungskorrektivs inne, in ihr, durch sie kann sich eine Gesellschaft über sich selbst verständigen und selbstkritisch spiegeln. Nur wenn die Künste sich frei entfalten können – unbehelligt von ideologischer Zensur wie ökonomischer Quote und Korrektheitsgeboten – können sie diese vitale Aufgabe kraftvoll erfüllen.

Die Studentinnen, die durchgesetzt haben, dass Eugen Gomringers Gedicht verschwand, haben dies im Sinne der Interessenwahrung von Frauen getan. Und sicherlich in vielen Kontexten und Situationen recht mit ihrem Protest, mit ihren Forderungen – aber künstlerische Darstellungen, gleich ob in Wort oder Bild sind, im Unterschied zur Werbung, nicht in einem Verwertungszusammenhang zu sehen. Eine nackte Frau auf einem Autokühler ist obszön, eine Nackte bei Egon Schiele genau nicht.

 

 

Liegender weiblicher Akt, Egon Schiele, 1917

 

Indem die Studentinnen dem Gedicht unterstellten, es diskriminiere Frauen, beraubten sie sich und andere einer Teilhabe, die vom reinen Rollendenken erlöst. Und bescherten überdies noch den Ewiggestrigen eine schöne Gelegenheit, sich über die Frauenbewegung als Ausbund von Männerhass zu mockieren.

Es ist alles andere als ausgemacht, dass ich, weil ich eine Frau bin, einen ausschließlich weiblichen Blick auf ein Gedicht, einen Roman, eine Skulptur oder ein Gemälde werfe. Ich schaue oder lese auch als Inhaberin eines bestimmten Gehirns, einer Sprache, als Archivarin unzähliger, nicht auf einen Nenner zu bringenden Erfahrungen, als Unwissende und Wissende, als Erzeugte und als Entsprungene.

In der Wahrnehmung – und, als Autorin, in der Herstellung – eines Kunstwerks, das sich der Formatierung und Normierung entzieht, fühle ich mich frei und ernstgenommen. Substantiell genährt, nicht unter großzügigem Einsatz von Geschmacksverstärkern abgespeist. Dies ganz im Unterschied zu den qua Algorithmus ermittelten Vorschlägen für meine Seligkeit, welche die mir nahegelegten Konsumakte garantieren sollen. Was so harmlos als Service daher kommt, ist außerordentlich tückisch, weil es nicht mehr nur um die Steuerung der Wunscherfüllung geht, sondern um die der Wunschausbildung. Es ist im Interesse von Machtstabilisierung, im Interesse einer Ausbildung von Geschmacksmonopolen und von Profitmaximierung, wenn wir, die Mitglieder einer höchst diversifizierten Gesellschaft, berechenbar werden – wie jeder weiß, der schon einmal einen Einkauf über das Internet getätigt oder eine Partnerbörse konsultiert hat.

Es wird suggeriert, dass wir widerspruchsfreie Wesen sind – oder hat jemand schon einmal erlebt, dass ihm nach der Bestellung von Jane Austens Pride and Prejudice als nächster Kauf ein Roman von Stephen King vorgeschlagen wurde? Tatsächlich haben wir aber die Kraft und die Kreativität, Vielfalt und Widersprüchliches zu integrieren – um nur ein Merkmal komplexer psychisch-mentaler Organisationsformen zu nennen –, erst das ermöglicht uns, kunstaffine Wesen zu sein.

 

   

Jane Austen, Stich, 1869 // Pride and Prejudice, Erstausgabe, 1813 // Darcy macht Elizabeth den Hof, Illustration von Hugh Thomson, 1894

 

Utopische und dystopische Räume, auch zeitlich oder geographisch ferne, werden in künstlerischer Gestaltung sinnlich erfahrbar. Die Begegnung mit individuellen Kunstwerken fordert uns, im Unterschied zum bloßen Konsum der Produkte einer affirmativen oder eskapistischen Unterhaltungsindustrie, heraus, unsere Lebensentwürfe zu hinterfragen. Im Analogen, also im echten Leben, sind wir wechselnden Spannungen ausgesetzt, das macht die Sache schwieriger, aber auch interessanter als der binäre Antagonismus von 0 und 1, von E und U, von ihr da oben und wir da unten, den sämtliche Aufheizer und Lautsprecher populistischer Couleur bevorzugen und befördern.

 

 

Stephen Kings Carrie // Buch- und Filmcover // Still aus dem Film von Brian De Palma mit Sissy Spacek

 

Wir brauchen die Kunst als Störenfried und Unruheherd, aber wir brauchen keine Hetzer, Zensoren und bigotte Sittenwächter, die spalten und damit letztlich zu einer Paralyse führen. Gesellschaftliche Entwicklung und Veränderungen können nur von Individuen und Wählern herbeigeführt werden, die überzeugt sind, dass die Ausübung von Freiheit in der verantwortlichen Gestaltung des Gemeinwesens stattfindet und nicht in der Vertretung von Partikularinteressen. Kunst gehört zur Aussteuer des Gemeinwesens, sie muss unverzichtbarer, integraler Bestandteil offener Gesellschaften sein, der nicht dem freien Spiel des Marktes preisgegeben wird, womöglich noch mit der zynischen Ausrede, dass dies die Freiheit der Kunst selbst verlange.  

 

Lolita, Verfilmung von Stanley Kubrick mit Sue Lyon, 1962, Roman und Drehbuch von Vladimir Nabokov

 

Ebenso wenig darf sie zensiert werden unter dem fadenscheinigen Deckmäntelchens des Schutzes vor Diskriminierung. Lolita ist kein Plädoyer für Pädophilie, sondern eine kunstvolle, hochkomplexe Erarbeitung einer Sprache des Begehrens. Eines Begehrens auf Kollisionskurs mit allen Konventionen.

Kunst ist niemals Meinungsäußerung, und man muss sie vor Meinungsterror schützen. Sie bringt etwas zur Gestaltung, macht etwas durch Anverwandlung – Madame Bovary, c’est moi, befand Flaubert – erfahrbar, sie stößt etwas an, sie stößt an: einen Perspektivwechsel, eine neue Grammatik. Es sind nicht die Künstler, seien sie moralisch vorbildlich oder völlig verkommen, die den Wert eines Kunstwerks beglaubigen oder seine Hinterlassungsfähigkeit ausmachen, es sind die Form und die Gestaltung.

Die Behauptung, es sei aus Rücksichtnahme erforderlich, dass „inkorrekte“ Bilder abgehängt und Filme beschnitten, Passagen in literarischen Werken gesäubert und angepasst werden, ist gleich in mehrfacher Hinsicht heuchlerisch und folgenreich: Solche Aktionen sind in erster Linie eine marktstrategische Entscheidung und dienen der Generierung von Aufmerksamkeit. Aber die weitaus ernstere Folge ist die Bedrohung des Lebensraums, nicht nur der Kunst, sondern auch der freien Entfaltung der Bewohner dieses Raums. Diese hängt ganz wesentlich mit unserer Befähigung zusammen, in Möglichkeitsräumen, im Imaginierten und im Geträumten unterwegs sein zu können, die Normativität des Faktischen zu durchbrechen und die Vorstellungskraft als Korrektiv einzusetzen.

Wäre nicht schlecht, wenn sich auch für den Erhalt solcher Freiräume eine #MeToo-Offensive zu Wort meldete.

 

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