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24.08.2017, 15:38 Uhr
Thomas Bauer
Text & Debatte
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Wie ich versuchte, 88 Tempel zu erobern, und mich dabei in Japan verlor

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Figur am Wegrand (c) Thomas Bauer

Der 1976 in Stuttgart geborene Schriftsteller Thomas Bauer war Greenpeace-Mitarbeiter in Paris und Journalist in Sydney, studierte in Konstanz, lebt heute in Tutzing bei München und arbeitet am Goethe-Institut der bayerischen Landeshauptstadt. Seine ausgedehnten Reisen führten ihn auf alle Kontinente der Erde, insbesondere nach Südamerika, Osteuropa und Südostasien, weshalb er auch als Reisebuchautor tätig ist. Er ist Herausgeber mehrerer Reiseanthologien, Gründer der Stuttgarter Autorengruppe „Wortjongleure“, Mitglied der 42er-Autoren und des Bundesverbandes junger Autoren und Autorinnen (BVjA). Zu seinen weiteren Publikationen gehören die frühen Gedichtbände Orkan des Lebens (Berlin, 1998) und Simone träumt (Regensburg, 2000). Der folgende Textauszug stammt aus Bauers neuestem Werk, dem Pilgerbericht Fremdes Japan, der kürzlich im Mana-Verlag erschienen ist. In Fremdes Japan erzählt Thomas Bauer, wie er bewaffnet mit Hut und Pilgerbüchlein zu 88 Tempeln gehen will – und dabei in die Tiefen und Untiefen der japanischen Kultur und Mentalität vorstößt. Zwischen kaum nachvollziehbaren Regeln und echter Pilgerfreundschaft, jahrtausendealten Traditionen und hypermoderner Technik, zwischen buddhistischem Gleichmut und gnadenloser Geschäftstüchtigkeit lernt er ein Japan kennen, in dem man sich rasch verliert.

***

»Itadakimasu*«, sagt Herr Matsugami und lächelt unergründlich. Erfolglos suche ich im Gesicht meines Gastgebers nach einem Hinweis, wie ich mich verhalten soll. Hat er gerade einen Witz gemacht? Soll ich lachen oder wäre das unangebracht? Ich probiere es mit einem freundlichen Augenaufschlag und senke gleich darauf den Blick auf das vor mir stehende Tablett. Herr Matsugami hat Köstlichkeiten der japanischen Küche zu einem Gesamtkunstwerk komponiert. Schälchen mit rohem und gebratenem Fisch grenzen an andere mit Reis und Algen. In der Mitte steht eine dampfende Schüssel Miso-Suppe, auf der zwei hölzerne Essstäbchen liegen.

Was ist das nun wieder? Will man herausfinden, ob der ausländische Gast dumm genug ist, zu versuchen, eine Suppe mit Stäbchen zu essen? Herr Matsugami bietet mir keine Anhaltspunkte, wie ich Suppe und Besteck kombinieren könnte, da er in einer Sprache, die er für Englisch hält, auf mich einspricht, während er mit seinen Stäbchen beiläufig einen Fisch entgrätet. Da kommt der Sohn des Hauses in den Frühstücksraum der Pension. Lässig schöpft er sich zwei Löffel Suppe, fläzt sich auf seinen Platz und schlürft die Schüssel aus. So macht man das also.

Im Folgenden sollte Japan seine besten Trümpfe ausspielen. Danach hatte es zu Beginn nicht ausgesehen: Immer wenn ich nach Asien reisen wollte, hatte ich eines meiner Organe verloren. Wenige Tage vor meinem Abflug nach Vietnam war ich den Blinddarm losgeworden. Meine Reise nach Japan hatte ich zweimal verschieben müssen. Zuerst hatte mich eine Grippe ans Bett gefesselt, dann hatte man mir die Gallenblase aus dem Bauch geholt. Vielleicht sollte ich seltener nach Asien aufbrechen: Eine Niere könnte ich noch hergeben, dann wird es wirklich eng.

Indem ich nach Osaka geflogen war, hatte ich mich ins Zentrum der weltweiten Entwicklung begeben. Hier bin ich die deutsche Landpomeranze, die sich in der Großstadt zurechtfinden muss. Wohin ich mich wende, überall fließen Menschen aus Läden und Restaurants. An Querstraßen bleiben sie wie auf Knopfdruck stehen. In vier Minuten können Hunderte, manchmal Tausende zusammenkommen. Wenn die Fußgängerampel auf grün springt, setzen sie sich so synchron in Bewegung, als seien sie Teile einer unsichtbaren Maschine, an der jemand einen Hebel umgelegt hat. Niemand beachtet mich, keiner sieht mich an. Ich verstehe gar nichts, und es ist schlichtweg egal, ob ich hier bin oder nicht.

Am höchsten Punkt des Pilgerwegs (c) Thomas Bauer

Im Zentrum dieses Wahnsinns hat man in einem »Kapselhotel« Röhren wabenförmig aufeinandergestapelt. Man klettert eine Leiter empor, legt sich in eine sterile Box und zieht eine Jalousie herab. Natürlich hat man einen Fernseher in den Raum integriert. Er ist so hypermodern, dass ich ihn nicht einmal anbekomme. Auch die Sauna ein Stockwerk höher kann ich nicht nutzen. Der Anblick meiner Tätowierungen sei anderen Gästen nicht zumutbar, erklärt man mir.

Japan, das ist in erster Linie eine kühne Behauptung: jene nämlich, dass man 6500 Inseln zu einer Kultur zusammenfassen kann. Da gerade einmal 400 dieser Inseln bewohnt sind, ballen sich die Einwohner in einem für Europäer schwer vorstellbaren Ausmaß an den schmalen Küstenstreifen. Einen Monat lang möchte ich ihr Leben teilen: Auf einem der ältesten Pilgerwege der Welt will ich die japanische Insel Shikoku umrunden und ins Gespräch kommen mit Pilgern, Passanten und Pensionsbesitzern. Und einige meiner Vorurteile loswerden: Arbeiten wirklich alle Japaner bis zum Umfallen? Sind sie so angepasst, wie sie tun? In Deutschland wären sie doch alle Mitglieder der Jungen Union; die Klassenbesten, die niemand mag.

Im ersten von 88 buddhistischen Tempeln verwandelt mich die Angestellte in einen o-henro, einen Pilger. Als ich den Laden verlasse, trage ich einen mit Plastik überzogenen Hut, einen verzierten Pilgerstab und ein kimono-ähnliches Baumwollhemd. All das ist weiß, die Farbe des Todes, verstanden als Überwindung der Begierden und Übertritt zum Nirwana.

Bis ich dort ankomme, muss ich einige Hürden überwinden. »Gesutohausu«, sagt ein junger Mann und blickt mich fragend an. Zum Glück zeigt er dabei auf eine kleine Straße. Ja doch, nicke ich, dort gebe es ein »guesthouse«. Das Japanische zerlegt jedes Wort in Silben, und die bestehen aus einem Konsonanten, dem ein Vokal folgt. Ich kenne mehr japanische Wörter, als ich gedacht habe. Sushi und Wasabi, Taifun und Tsunami. Karaoke und Kamikaze. Sogar einige Begriffe aus dem Deutschen gibt es. Anzailen sagt man hier, die »Berghütte« heißt hyutte. Besonders schön finde ich den kontorabasu, den »Kontrabass« also, und natürlich den orugasumusu – Sie wissen schon ... Schwierig wird es, wenn sich in anderen Sprachen Konsonanten aneinanderreihen. Da wird das »Restaurant« zu resutolan und das Geschenk (»present«) zu palesentu.

Japanisches Frühstück (c) Thomas Bauer

Abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten gleiten meine japanischen Mitpilger zielstrebig wie Billardkugeln voran. Nie pausieren sie zwischen zwei Tempeln, auch wenn diese 20 Kilometer auseinanderliegen. Viele haben sich blecherne Glöckchen um den Stock gebunden: Das Klingeln hält ihre Gedanken auf den Weg gerichtet. Nirgendwo sonst habe ich so ernsthafte Pilger gesehen. Verglichen mit diesen Wegprofis tapse ich voran wie ein unsicherer Hundewelpe. Warum muss es regnen, frage ich mich, warum führt der Weg so nah an der Straße entlang, und bin ich hier überhaupt richtig? Erst ein Junge gibt mir etwas mehr Gelassenheit. Natürlich läuft die gegenseitige Vorstellung erst einmal gründlich schief. Als er bei der vierten Silbe seines Namens ankommt, habe ich die ersten beiden schon wieder vergessen. Er komme von Hokkaido, vertraut er mir an, ganz im Norden Japans.

 »Und willst du den ganzen Pilgerweg gehen?«

 »Klar, er ist der Höhepunkt meiner Wanderung.«

 »Der Höhepunkt?«

 »Ja. Wie gesagt, ich komme aus Hokkaido.«

 »Oh, zu Fuß?«

 »Ja, ich bin einmal längs durch Japan gezogen. Der Shikoku-Pilgerweg markiert die Halbzeit. Dann geht es wieder zurück.«

 »Du gehst also 6000 Kilometer zu Fuß, zeltest bei Wind und Wetter draußen und kochst dir dein Abendessen selbst?«

 »So kann man das zusammenfassen.«

Ein Deutscher hätte diese Information vermutlich, als flotter Spruch zusammengefasst, auf einem T-Shirt herumgetragen. Dem Jungen hingegen muss ich die Neuigkeit erst aus der Nase ziehen. »Tüchtige Falken verstecken ihre Krallen«, behauptet der Bushido, der Ehrenkodex der Samurai, die in Japan 700 Jahre lang das Ideal männlicher Tatmenschen dargestellt haben.

Als sich unsere Wege trennen, wünsche ich dem Jungen einen schönen Abend und verbeugte mich linkisch. Daraufhin neigt er sich formvollendet zur Erde, weitaus tiefer, als ich es getan habe. Jetzt verbeuge ich mich so tief, dass der Rucksack beinahe meinen Rücken hinauf zum Hals rutscht. Das nutzt mir indessen gar nichts, da sich mein Gegenüber sofort noch tiefer verbeugt. Seine Pose erinnert inzwischen an komplizierte Haltungen aus dem Ashtanga-Yoga. Da gebe ich auf und bleibe einfach stehen. Ich fühle mich unwohl dabei; er offenbar auch. Er dreht sich zu mir um, geht fünf Meter rückwärts, auf denen er sich ständig verneigt, droht kurz zu stolpern, fängt sich aber gleich wieder und zieht endlich winkend von dannen.

Glücksbringer in einem Tempel (c) Thomas Bauer

Drei Wochen sollte es dauern, bis ich mich in diesem Land halbwegs zurechtfinde. Aber selbst dann noch verstehe ich dauernd alles falsch. »Shabu-shabu«, sagt ein Mitpilger, als wir vor einer Art Feuertopf sitzen, und noch bevor ich mir ausmalen kann, ob das vielleicht das japanische Pendant zum Boogie-Woogie ist und er ein Tänzchen von mir verlangt, zeigt er auf eine silberne Schüssel. Shabu-shabu bedeutet, dass man Fleischstückchen und Gemüse in siedendes Wasser wirft und anschließend versucht, das Gewünschte mit langen, besonders unhandlichen Stäbchen wieder herauszuangeln. Man könnte meinen, dass es nur erfunden worden ist, um ausländischen Japanbesuchern Gelegenheit zu geben, sich zu blamieren.

»Lonpari«, sagt mein Gegenüber unvermittelt.

»Bitte was?«

»Na, der Mann, der dir gegenübersitzt. Fällt dir was an ihm auf?«

»Ja, er schielt.«

»Eben, er ist ein lonpari. Mit einem Auge schaut er nach London, mit dem anderen nach Paris.«

Mein Mitpilger krümmt sich vor Lachen. Das habe ich unterwegs oft erlebt: Hinter dem normierten Auftreten steckt nicht selten ein eigenwilliger Geschmack, eine unerwartete Vorliebe oder ein abstruses Hobby. Wahrscheinlich können sich viele Japaner so uniform geben, eben weil sie tief in ihrem Inneren um ihre Einzigartigkeit wissen. In seinen Geschichten von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer lässt Michael Ende einen Scheinriesen auftreten, der kleiner wird, je näher man ihm kommt. Mit Japan verhält es sich genau umgekehrt: Auf den ersten Blick wirkt es ordentlich und spießig. Bestenfalls kann man ein paar Verrücktheiten aufzählen, auf die man hier trifft. Was wirklich in Japan steckt, gibt es erst preis, wenn man sich näher damit beschäftigt. Mein braver Mitpilger zum Beispiel ist in Wahrheit gar nicht so brav. Grinsend hält er mir wieder und wieder eine Flasche hin. »Von hundert Arzneien ist Sake die beste«, behauptet er. »Kanpai!«

V.l.n.r.: Winkekatze – So geht das. – Mitpilger unterwegs – Singende Steinfigur (c) Thomas Bauer

Erst am Schluss hat der Pilgerweg von Shikoku es mir gestattet, ein Stückweit anzukommen in Japan. Das hätte ich auch einfacher haben können. Ich hätte mir zum Beispiel für 1500 Euro einen Agenten kaufen können, der die Tour für mich übernommen hätte. Am schönsten finde ich die Offerte einer Reiseagentur aus Kyoto: Sie bietet an, dass man, statt selbst die Insel zu umrunden, sein Kuscheltier auf den Weg schickt. Die Teddys und Plüschlöwen werden unterwegs fotografiert und schreiben Grußbotschaften in den sozialen Netzwerken.

Stattdessen bin ich vier Wochen lang in diesem herrlich undurchschaubaren, künstlich verkomplizierten und ästhetisch verklausulierten Land unterwegs gewesen. Auf den letzten Kilometern geht es mir richtig gut. Ki ni iru, sagen die Japaner, »das gibt mir ein gutes ki«. Damit meinen sie, dass alles im Lot ist, dass man bei sich ankommt und merkt, dass es dort eigentlich ganz okay ist. Mein ki schlägt Purzelbäume, als ich den 88. Tempel erreiche. Japan verlangt den langen Blick.

Sie glauben mir nicht? Dann probieren Sie es einfach aus! Machen Sie sich selbst auf den Weg – und bitte: Ki o tsukete – passen Sie dabei auf Ihr ki auf.

 

(* Itadakimasu = »Guten Appetit«)

Sekundärliteratur:

Bauer, Thomas (2017): Fremdes Japan – Wie ich versuchte, 88 Tempel zu erobern, und mich dabei in Japan verlor. MANA Verlag.

Externe Links:

Website von Thomas Bauer

Eintrag bei Autorinnen und Autoren in Baden-Württemberg

Thomas Bauer in der Wikipedia