Zum 50. Todesjahr von Oskar Maria Graf (9): Über die Hauptfigur eines fast unbekannten Romans – „Der Abgrund“

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Buchumschlag der Erstausgabe (1937) von John Heartfield

Die 128. Ausgabe der Literatur in Bayern (Allitera Verlag, München) widmet ihren Schwerpunkt dem selbsternannten „Provinzschriftsteller“, geschichtenerzählenden Revolutionär und international erfolgreichen Autor Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See. Die Autorinnen und Autoren beleuchten unterschiedliche Facetten des widersprüchlichen Dichters, dessen Tod im Exil in New York sich 2017 zum 50. Mal jährt. Hannes S. Macher widmet sich in seinem Text einem der unbekannteren Romane des Autors mit dem Titel Der Abgrund.

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Zu den bekannteren Werken von Oskar Maria Graf zählt Der Abgrund seltsamerweise nicht, obwohl dieser Roman nicht nur Grafs erstes, im österreichischen und tschechoslowakischen Exil entstandenes Werk ist, sondern womöglich auch Grafs sozial- und gesellschaftskritisches Anliegen am besten dokumentiert. Eigentlich hätte dieser „Zeitroman“ (so der Untertitel) bereits 1935 im Querido Verlag in Wien erscheinen sollen, doch Fritz H. Landshoff verzichtete auf die Veröffentlichung, da er befürchtete, dass aufgrund des faschistischen Vormarsches sein gesamtes Buchprogramm verboten werden könnte. Folglich nahm sich Wieland Herzfelde des Manuskriptes an, in dessen Verlag bereits Grafs erste selbstständige Prosaveröffentlichung Frühzeit und der Erzählband Zur freundlichen Erinnerung erschienen waren. Doch auch hier verzögerten sich Druck und Auslieferung bis zum Herbst 1936, da die kommunistischen Finanziers des Malik-Verlages Grafs Haltung gegenüber der KPD als zu kritisch empfanden. Doch mit dem Buchumschlag, der wohl zu den prägnantesten Fotomontagen John Heartfields zählt, ließ dieser Roman durchaus aufhorchen, zumal auch Heinrich Mann in einer Rezension auf diese Neuerscheinung aufmerksam machte.

Der Abgrund, nicht nur im Londoner Malik-Verlag, sondern im selben Jahr auch von der Verlags-Genossenschaft ausländischer Arbeiter in Moskau und Leningrad herausgegeben, 1982 bei der Büchergilde Gutenberg und 1994 im Band 3 der OMG-Werkausgabe ediert, erschien 1976 unter dem Titel Die gezählten Jahre im Süddeutschen Verlag und 1980 als Taschenbuch bei dtv. Graf schildert hier unter dem Eindruck persönlicher Erlebnisse höchst eindrucksvoll unter anderem auch den Vorabend von Hitlers Machtergreifung, das Wüten und brutale Vorgehen der SA gegen SPD- und Gewerkschaftsmitglieder in München, die sich dem faschistischen Terror tapfer entgegenstellen.

 

Preis-Porträt (ca. 1925) eines unbekannten Malers © Hannes S. Macher

 

Ins Zentrum dieses packenden Zeitromans rückte Graf Joseph Hochegger, einen aufrechten Sozialdemokraten, der die Ideale der Solidarität der Arbeiterklasse verkörpert und in seiner Funktion als SPD-Mandatsträger in der Weimarer Zeit nicht den Klassenkampf propagiert, sondern durch Reformen und aktiv gestaltete Politik die Forderungen des Proletariats in die Tat umsetzen will, während sein Sohn dem Kommunismus sich zuwendet. Graf pries diesen Roman als fiktive und doch sehr reale „Familienchronik als Zeitgeschichte“ (Georg Bollenbeck) mit folgenden Sätzen an: Der Roman „behandelt das Schicksal einer süddeutschen sozialdemokratischen Familie (…). Er ist also vor allem die Geschichte sozialdemokratischer Menschen (…). Arbeiter treten darin auf, die ich kannte und noch kenne, mit denen ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe.“ Folglich gibt`s die Vermutung noch zu verifizieren und die Frage zu beantworten: Hatte Graf in der Figur des Joseph Hochegger, des so warmherzig beschriebenen Sozialdemokraten, Karl Sebastian Preis als Vorbild?

Als Kind eines Bergmanns und Häuslers 1884 in einfachen Verhältnissen im oberpfälzischen Auerbach geboren, schaffte Preis durch Fleiß und Beharrlichkeit nach der Anstellung als Sechzehnjähriger im Finanzamt in Landau an der Isar, nach Selbststudium und zahlreichen Aufsätzen und Broschüren über Fragen zur Einkommens- und Gewerbesteuer für Arbeiter und den Mittelstand den Sprung in die Münchner Stadtverwaltung, wo er 1917 in die SPD eintrat und 1918 Vorstandsmitglied der Münchner SPD wurde. Im Mai 1919 wechselte er zur USPD, um 1920, inzwischen als Berufsmäßiger Stadtrat als „Referent für die Wohnungswirtschaft“ zuständig, in den Schoß der Mehrheits-SPD zurückzukehren. In dieser Funktion legte er für die folgenden Jahre den Plan zur Errichtung von 11.00 Wohnungen für die unter der Not der Nachkriegsjahre besonders leidenden, von Arbeitslosigkeit und Inflation besonders betroffenen Familien vor. Noch bedeutender und nachhaltiger war freilich seine Denkschrift „Die Beseitigung der Wohnungsnot in München“ vom Jahre 1927, die ein Jahr später dank seines Engagements zur Gründung der „Gemeinnützigen Wohnungsfürsorge AG“ (kurz Gewofag) führte. Bis 1933, als Preis von den Nazis seines Amtes enthoben wurde, entstanden – mit Krediten von Banken in London und in den – in fünf Siedlungen nochmals 12.000 Wohnungen. Eine enorme sozialpolitische Leistung, die in ganz Deutschland Aufsehnen erregte. Und in Grafs Abgrund auch Eingang fand.

 

Alles Zufall?

Immerhin schildert OMG den Joseph Hochegger als aufrechten Sozialdemokraten, dem als Stadtrat „die Angelegenheiten des Mieterschutzes und der Wohnungsfürsorge oblagen“ und der eine „produktive Wohnbaupolitik“ forderte. Und weiter: „Der Initiative Joseph Hocheggers war es zu verdanken, dass alsbald in seiner Heimatstadt eine `Gemeinnützige Wohnhausbaugenossenschaft` ins Leben trat, (…) um Wohnungen, billige Wohnungen zu bauen“. Dazu höchst erstaunlich: Hocheggers Frau heißt mit Vornamen Babette, die Preis-Ehefrau Betti. Hochegger hat drei Kinder, Preis ebenso. Alles Zufall? Ob OMG den Initiator „produktiver Wohnbaupolitik“ persönlich gekannt hat, wäre daher ebenfalls noch zu erforschen wie die Frage, wie es dazu kam, dass Graf in die Figur des Joseph Hochegger einige charakteristische Merkmale aus dem Leben und Wirken von Karl Sebastian Preis als „Visionär und Pionier des sozialen Wohnungsbaus in München“ (so der Titel einer Ausstellung im September 2016 in der Gewofag-Zentrale) hat einfließen lassen. In den Preis-Unterlagen des Münchner Stadtarchivs, im Gewofag-Archiv und im umfangreichen Preis-Nachlass, der demnächst dem Münchner Stadtarchiv übergeben wird, sind - zumindest bis jetzt - diesbezüglich noch keine Dokumente oder Hinweise gefunden worden. Doch den Graf-Biografen und OMG-Literaturscouts sei dieser Hinweis hiermit schon mal als vielleicht hilfreicher Tipp zur weiteren Erforschung des Werkes des Klassikers der bairischen Literatur, vor allem jedoch des Romans Der Abgrund, gegeben.

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