Thomas Palzer über das Ende des Buches und die Erfahrung im Roman

Am 23. April ist Welttag des Buches. Der Münchner Schriftsteller Thomas Palzer schreibt zu diesem Anlass in seiner Kolumne über das Buch und seinen Ableger, den Roman. Thomas Palzer arbeitet – oft unter philosophischen Fragestellungen – neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt erschienen der Roman Nachtwärts, der Essay Vergleichende Anatomie und, aktuell, der Kriminalroman Die Zeit, die bleibt. Im Literaturportal Bayern reflektiert er regelmäßig über philosophische Themen, die sich im weiteren Feld von Bibliothek – Schrift – Archiv bewegen.

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„Die großen Zahlenarchitekturen, wie sie Gauss, Cauchy, Abel, Cantor und Weierstrass entworfen haben, entziehen sich im ständig beschleunigten Tempo der sprachlichen Erfassung, oder vielmehr: sie erfordern und entwickeln eigene Ausdrucksweisen, deren Syntax so artikuliert und kompliziert ist wie die unserer Grammatiken. Und zwischen diesen „Sprachen“ und denjenigen des alltäglichen Gebrauchs, zwischen dem mathematischen Symbol und dem Wort, werden die Brücken immer schmaler, bis sie endlich abgebrochen sind.“ Das schreibt der Schriftgelehrte George Steiner 1962 in einem Essay mit dem wehmütigen Titel Der Rückzug vom Wort.

Weil es im Netz nicht mehr um die Erhöhung von Aufmerksamkeit geht, sondern um die Erhöhung der Reize, wird eine McDonaldisierung des Wissens betrieben – ersichtlich etwa an Wikipedia und dem Fetisch der Listen. Im Netz wird Wissen in Konsumgut verwandelt. Weil es unbegrenzt wachsen kann und wächst und weil es ständig renoviert werden muss, ist es unter dem Aspekt seiner Kapitalisierung das Produkt des Jahrtausends: für ewig den Konsumenten immer wieder neu bzw. erweitert andrehbar. In diese Welt, die auf Stimulation, Signale und Reize setzt, auf Lesen mit Musikbegleitung, um es einmal in Anlehnung an D. H. Lawrence zu sagen, passt das stille und konzentrierte Lesen nicht.

Anders als propositionales, aussagbares Wissen, das geradezu danach verlangt, in einen Datenspeicher wie dem Netz eingespeist und damit ebenso verfügbar wie stets auf dem neuesten Stand gehalten zu werden, sind Roman und Erzählung als narrative Formen von Wissen an das gedruckte Buch gebunden, an Anfang und Ende, incipt und finis. Ivan Illich: „Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass eine rein mündliche Überlieferung keine Trennung zwischen Erinnern und Vortrag kennt. Der Sänger aus voralphabetischer Zeit stützt sich nicht, wie sein mittelalterliches Gegenstück, auf ein Lagerhaus der Erinnerungen, wenn er ein Gedicht verfasst. Er greift vielmehr in einen Schnappsack von Wendungen und Adjektiven und spinnt, getrieben vom Rhythmus der Leier, den Faden seiner Erzählung fort.“

Das narrative Wissen, das Wissen von der unaufhebbaren Geschichtlichkeit des Daseins ist, kann nicht in Informationen aufgelöst, es kann nur erzählt werden. Narratio setzt einen Autor voraus. Sie ist in den materiellen Voraussetzungen der Erfahrung verwurzelt. Jeder ist der Autor seines Selbst, das als Konstrukt genauso eine Folge des Alphabets ist wie Wort, Begriff, Gedächtnis, Gedanke und Geschichte. Im 20. Jahrhundert sind Erzählung und Selbst sogar unzertrennlich geworden – so wie einst das Epos und sein Rhapsode. Der Autor spinnt die Geschichte als Teil seiner selbst. Noch einmal Ivan Illich: „Der Mensch des 20. Jahrhunderts sieht sich selbst durch die Augen verschiedener Wissenschaften als eine ‚Schichttorte‘ aus Texten. Seit dem 18. Jahrhundert ist der Staat eine Gemeinde von Selbsts geworden, die mittels Buchstaben untersucht werden.“

Mit der Digitalisierung ist die Verwandlung des Buchs von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den Verstand endgültig vollzogen. Wir leben in einer Welt der Argumente. Aber der Roman braucht den Erzähler und mithin den Verweis auf die Welt. Der Roman braucht die Erfahrung. Darum wird er buchgebunden, also an Schluss und Endlichkeit gekoppelt bleiben – oder der Roman gehen müssen.

Lassen wir ein letztes Mal Ivan Illich zu Wort kommen: „Die Seite hat nicht mehr die Eigenschaft eines Ackers, in dem die Buchstaben verwurzelt sind. Der neue Text ist ein Gespinst auf den Seiten des Buchs, das in ein eigenständiges Dasein abhebt. Dieser neue Text hat zwar eine materielle Existenz, aber nicht die Existenz gewöhnlicher Dinge; er ist weder hier noch dort. Nur sein Schatten erscheint auf der Seite dieses oder jenes konkreten Buchs.“

1988 verkündete George Steiner in der London Times Literary Supplement das Ende des Buchzeitalters. Damit prophezeite er nicht das Ende des gedruckten Buches, sondern, dass das Buch für die Mittelschicht nicht mehr der Hauptzugang für Information und Unterhaltung sein würde. Diese Rolle würden Computer, elektronische Spiele, Filme, Videos, Fernsehen und das Internet übernehmen – und 30 Jahre später können wir sagen: Sie haben die Rolle übernommen. Das Buch kehrt dorthin zurück, wo es begonnen hat: ins monastische Dasein. Im Kloster schrieben die Äbte übrigens nicht selbst, sondern diktierten einem Schreiber. Wie Gott den Propheten. Das Diktat führte Regie. Vielleicht ist das Buch an den Monotheismus gebunden, an den griechischen und semitischen Geist. Jedenfalls wird dieser Gedanke von Thora, Bibel und Koran nahegelegt.

Wie das Wort ist auch das Schweigen ein Geschöpf des Alphabets. Und die Musen können schweigen.