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Goethe in München

Seit über 30 Jahren erscheint die Kulturzeitschrift Literatur in Bayern. Aus der letztjährigen Ausgabe 123 publizieren wir den Beitrag von Hannes S. Macher über ein Buch von Franz Rapp, das Johann Wolfgang von Goethes Spuren in München nachgeht. Macher war 1985 Mitbegründer der Literatur in Bayern. Für einige Zeitungen verfasst er seit vier Jahrzehnten Münchner Kulturberichte und ist als Rezensent hauptsächlich für den Bayerischen Rundfunk und für Fachzeitschriften tätig. Autorenporträts sind von ihm u.a. im Handbuch der Literatur in Bayern, im Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und in Autoren und Autorinnen in Bayern enthalten. Er ist Herausgeber von bisher knapp einem Dutzend Anthologien und hat (zusammen mit Alfons Schweiggert) Unsere Heimat München, Benedikt Hirschbolds Grundschulklassiker, mit dem alle Münchner Kindl seit 1949 groß geworden sind, in der 22. Auflage erweitert und aktualisiert.

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Goethe in München

Viel Zeit hatte er fürs München-Sightseeing ja nicht eingeplant, nachdem er sich am 3. September 1786, „früh 3 Uhr“, aus Karlsbad „weg stahl“. „Denn es war Zeit“ für den Dichter und Multi-Minister, wie er in seinem für Charlotte von Stein geführten „Reise-Tagebuch“ notierte, so schnell wie möglich nach Italien zu kommen: „Auch ich in Arkadien!“.

Über Eger und am Stift Waldsassen („ein köstlich Besitztum der geistlichen Herren in einem schönen Wiesengrunde“) vorbei, über Tirschenreuth, Weiden, Schwandorf, Regensburg („in der Stadt steht Kirche gegen Kirche und Stift gegen Stift“) traf er am 6. September („um 6 in der Frühe“) schließlich in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt ein. Im Schwarzen Adler in der Kaufingergasse nahm er als „Johann Philipp Möller, Kaufmann aus Leipzig“ Logis. Ein Gasthof mit Weinausschank, der ihm vom Weimarer Prinzenerzieher und Freund Karl Ludwig von Knebel empfohlen wurde. Nach dem Frühstück absolvierte er ein bildungsbürgerliches Besichtigungsprogramm im Eiltempo: Bei den „trefflichen Sachen“ in der „Bildergalerie“ am Hofgarten, dem Vorgängerinstitut der Alten Pinakothek, fand er sich trotz der Skizzen von Rubens „nicht einheimisch“, da seine „Augen auf diese Gegenstände nicht geübt sind“. Also ging`s weiter zum „Antiquario oder Antiken-Cabinet“, wo er auch nicht lange verweilte, da „der Saal, oder vielmehr das Gewölbe, ein gutes Ansehn hätte, wenn es nur reinlicher und besser unterhalten wäre“.

Im „Antikensaal“ betrachtete Goethe dann unter anderem eine Büste von Julius Cäsar, die „gar nichts taugt“, und den Landschaftsmaler Franz Kobell, von dem er einige Zeichnungen aus Italien besaß, wollte er besuchen. Aber der war nicht zuhause. Also stieg er auf den Turm der Frauenkirche, „von dem sich das Fräulein herabstürzte“, was ihn anscheinend auch nicht sonderlich berührte. Von hier war die 17-jährige Fanny von Ickstatt am 14. Januar 1785 herab in den Tod gesprungen. Schließlich war sie ja nicht die Einzige, die sich nach der Lektüre seiner Leiden des jungen Werthers das Leben nahm. Feigen hat er sich dann noch gekauft, „obgleich theuer, drey Kreutzer das Stück“, die ihm allerdings auch „nicht übermäßig gut“ geschmeckt haben.

Angesäuert war er schon bei der Ankunft in München, da „ein Nebel, der für einen Regen gelten konnte“, über der Stadt lag und tagsüber „der Wind sehr kalt vom Tyroler Gebirg blies“. Die einzige Freude, die der wegen all der Unbillen so genervte Tagestourist bei seinem gedrängten Besichtigungsprogramm hatte, war die klammheimliche Lust, inkognito durch die Stadt zu stromern, dabei nicht erkannt zu werden und von „einige(n), die ich dem Namen nach kannte, (…) ihr Betragen zu sehen“.

Der 6. September 1786, ein einziger, noch dazu kein besonders erfreulicher Tag im Leben des Johann Wolfgang von G. – kann das Grundlage für ein Buch mit dem Titel Goethe und München sein, gar mit hundert Seiten Umfang? Und wie! Zumal wenn dieser Report den Untertitel Die Bedeutung unserer Stadt nach Goethes Tagebüchern und Briefen und nach Mitteilungen seiner Freunde trägt und von Franz Rapp nach umfangreichen Recherchen zusammengestellt wurde.

Ein Standardwerk für Goethe-Freunde und München-Enthusiasten ist diese staunenswerte Dokumentation jedenfalls, die bereits 1932, zu Goethes 100. Todestag erschien, aber bald nur noch antiquarisch zu erwerben war, da auch dieses Werk nach der Machtergreifung durch die Nazis nicht weiter vertrieben werden durfte. Franz Rapp, dem Kompilator dieser Fleißarbeit, wurde ebenfalls aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1935 der Professorentitel an der Münchner Universität aberkannt. 1939 emigrierte er über Großbritannien in die USA, wo er nach einer Tätigkeit in der Theaterabteilung der New York Public Library zum Professor am Art Department der Howard University in Washington ernannt wurde. Rapps Verdienste um die Goethe- und die Theaterforschung können „gar nicht hoch genug eingeschätzt werden“, schreibt Claudia Blank, Direktorin des Deutschen Theatermuseums, im Vorwort dieser Edition. Denn  Rapp war seit 1919 der höchst umsichtige und engagierte Leiter des von der Schauspielerin Clara Ziegler gestifteten und nach ihr auch benannten Theatermuseums in München, und er organisierte 1932 die bis dahin größte Goethe-Ausstellung außerhalb Weimars.

Die Register, Stichworte und Kommentare der von der Stiftung Weimarer Klassik herausgegebenen Goethe-Ausgabe standen Rapp damals noch nicht zur Verfügung. Folglich hieß es für ihn „ad fontes“ zu gehen. Und was er dabei ans Tageslicht befördert hat, ist nicht nur erstaunlich, sondern bis heute die umfangreichste Untersuchung zu Goethes München-Bezug. Denn Rapp hat hier akkurat aufgezeichnet, was Goethe selbst und seine Gesprächs- und Briefpartner zwischen 1795 und 1832 über die Kunst- und Kulturstadt, über Wissenschaft und Architektur, über königliches, bürgerliches und kirchliches Leben mitgeteilt und geäußert haben. Und höchst erstaunlich ist beispielsweise auch Rapps Entdeckung, dass Goethe am 20. November 1828 eine „entoptische Maschine“, einen Apparat zur Polarisation des Lichts in Auftrag gab, beim „Opticus Namens Nickel“, „welcher die Glasplättchen und Cuben (…) sehr gut und brauchbar zu verfertigen weiß, wodurch jene Erscheinungen bey Spiegelung hervorgebracht werden“.

Von allem jedoch zeigt Rapp die Goethe-Verehrung von König Ludwig I. und dessen – vergebliches – Bemühen auf, den „König der Teutschen Dichter“ von Weimar wegzulocken und ihn als Münchner Hofdichter zu installieren. Weder Ludwigs Besuch zu Goethes 78. Geburtstag am 28. August 1827 in Weimar noch die mit Herzblut verfassten Briefe („Unerreicht steht Göthe da“) und das in Ludwigs Auftrag vom Hofmaler Joseph Karl Stieler im Mai 1828 in Weimar angefertigte berühmte Porträt konnte den „Erhabenen“ umstimmen, der „mit offenen Armen (…) in München empfangen werden“ sollte, wie Ludwig voll Enthusiasmus am 1. Februar 1826 schrieb.

Wenngleich Franz Rapp Ludwigs Hymne „Unerreichbar, gleich dem höchsten Berge, / Ragt er, eine schroffe Felsenwand, / Gegen Göthe sind die Menschen Zwerge“ (veröffentlicht 1839 „im Verlage der Liter. Artist. Anstalt der J.G. Cotta`schen Buchhandlung“) übersehen hat, so ist diese von der Münchner Goethe-Gesellschaft herausgegebene Neuauflage doch ein ganz besonderes literarisches und kulturhistorisches Dokument.

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