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23.08.2016, 12:37 Uhr
Thomas Lang
Text & Debatte
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© Peter von Felbert

Ein Auszug aus dem neuen Roman von Thomas Lang

Thomas Lang, geboren 1967 in Nümbrecht (NRW), lebt in München. 2002 erschien der Roman Than, ausgezeichnet mit dem Bayerischen Kunstförderungspreis und dem Marburger Literaturpreis. 2005 erhielt Lang den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Auszug aus dem Roman Am Seil, der außerdem für den Preis der Leipziger Buchmesse 2006 nominiert wurde. Ab September 2016 wird Thomas Lang unter dem Titel Der gefundene Tod einen Netzroman schreiben, an dem alle Interessierten interaktiv teilhaben können. In seinem aktuellen Roman Immer nach Hause (Berlin Verlag, 2016) schreibt Lang über das Leben des jungen Hermann Hesse in einer Zeit des Aufbruchs, aber auch der Schaffenskrisen und entwirft eine literarisch hochkarätige, fesselnde Fiktion auf Basis der Biografie. Wir publizieren einen Auszug aus dem im August erschienenen Buch.

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Volksbad


Mit einem schönen Katzenjammer von dem zweifelhaften Rheinwein, den er am Abend vorher getrunken hat, steht Hesse ausgehfertig in der Diele, als von der Wand das Telefon schrillt. Es dauert eine Minute, bis der Hausherr aus dem Schlafzimmer kommt und ihn von dem quälend lauten Klingeln erlöst. Reinhold Geheeb trägt einen blutroten Morgenmantel. Sein Haar steht in alle Richtungen, er wirkt übellaunig. Sicher ist er genauso verkatert wie sein Gast. Aber er ist Geschäftsmann, Teilhaber am Simplicissimus und ein wichtiger Mann im Albert Langen Verlag, er würde noch mitten im größten Besäufnis ans Telefon gehen.
Dezent wendet Hesse sich ab, er geht sogar ein paar Schritte in Richtung Tür, kann seine Ohren aber nicht verschließen und weiß gleich, dass Langen am anderen Ende der Leitung ist. Der Verleger hat ihn eingeladen, an diesem Vormittag gemeinsam ins Müllersche Volksbad zu gehen. Er hat die Modernität der Anstalt gepriesen und behauptet, man fühle sich nach ein paar Stunden Aufenthalt dort wie ein neuer Mensch. Nun sagt Langen also ab, wie Hesse ahnt und wie Geheeb ihm bald unter mürrisch gekräuselten Brauen mitteilt. Er habe die unerwartete Gelegenheit, einen Berliner Literaturkritiker zu treffen. Ein Kritiker, murrt Hesse innerlich. Er entschließt sich, trotzdem ins Bad zu gehen.

Sein Gastgeber zeigt sich erleichtert. Hesse bezweifelt, dass Geheeb sich noch mal hinlegen wird. Geheeb legt sich eigentlich nie hin, und sollte er eben geschlafen haben, war es ein Versehen. Als er sich umdreht, um in der dunklen Tiefe der Wohnung zu verschwinden, sieht Hesse, dass der Morgenmantel seines Gastgebers auf der Rückseite mit einem goldenen Drachen bestickt ist.
Der frische Wind, der München so oft durchweht, ist heute einem föhnigen gewichen. Es ist für einen Märztag sehr warm. Im Gegensatz zur Diele ist es draußen gleißend hell, die frischen Jugendstilfassaden in der Ainmillerstraße leuchten. Sie wirken auf ihn wie Kulissen, nichts ist wahr an diesem Morgen. Sollten die Häuser sich dennoch als echt erweisen, wäre er bloß eine Bühnenfi gur oder gar ein albern schnell laufendes und ruckelndes Männchen aus dem von ihm wenig geliebten Kintopp.
Vor einem Café auf der Leopoldstraße sitzen reglos, in Decken gehüllt, einige Münchner Bürger. Die Stühle wurden so gestellt, dass ihre Gesichter der Sonne zugewandt sind. Sie sind stumm, Puppen mit ausgebauter Sprechvorrichtung. Auch die Gestalten in der vorbeifahrenden Tram, deren Fenster an diesem scheinbaren Frühlingstag ausnahmslos aufgerissen wurden, sind von verräterischer Bewegungsarmut. Bei dem dichten Verkehr hat Hesse Mühe, auf die andere Straßenseite zu kommen. Vom Siegestor braust mit hohem Tempo ein glänzendes Automobil heran, das feurig hupend einige Pferdefuhrwerke überholt. In Richtung Stadt fahren gleich drei motorisierte Wagen. Im Näherkommen erkennt Hesse das stadtauswärts rasende Auto als das von Albert Langen, ein knallroter, offener Züst mit Speichenrädern und dicken Lederpolstern. Der Mann hinterm Steuer trägt eine Mütze und einen bis zur Nase reichenden Schal. Neben ihm sitzt ein ebenso vermummtes Fräulein. Automobilistenbrillen machen die beiden vollends unkenntlich. Hesse würde nicht mehr schwören, dass es sich um Langen und seinen Züst handelt, auch wenn in München gerade mal fünfhundert Autos zugelassen sind. Die rechte Hand des Fahrers liegt starr auf dem Steuerrad, die linke auf der Ballhupe. Die Hände des Fräuleins ruhen auf seinem Oberschenkel und auf dem Armaturenbrett. Im Gegensatz zu den Gestalten, die Hesse bisher gesehen hat, wirken diese beiden lebendig. Sie weben einen Faden hin und her aus Liebe oder Anziehung. Der ist unsichtbar und doch so stark, dass man ihn noch bei zwanzig Kmh erkennt. Sollte es sich tatsächlich um Langen handeln, dann gehört das Fräulein nicht an seine Seite. Wie seine getrennt lebende Ehefrau oder die neue Lebensgefährtin sieht es jedenfalls nicht aus. Bevor Hesse sich vergewissern kann, ist der Wagen wie ein Traumgebilde vorbeigezogen. Nichts als die stinkende Rauchfahne bleibt. Der Dichter macht sich nicht die Mühe, sich über den Verlagsmann zu ärgern.

Bis zur Kaulbachstraße kennt Hesse den Weg. Dort befindet sich die Redaktion des Simplicissimus, dort gründen sie gerade die liberale Zeitschrift März, für die Hesse Rezensionen schreiben und die er mitherausgeben wird. Ein Stückchen weiter links liegt die Mandlstraße, wo Langen wohnt. Im Englischen Garten muss Hesse den Weg zum neuen Bad erraten. Wenn er immer geradeaus geht, wird er irgendwann auf die Isar treffen. Das Bad müsste ein Stück weit fl ussaufwärts liegen. Er folgt auf gut Glück den verschlungenen Pfaden durch den riesigen Park und gelangt zügig zum Chinesischen Turm. Die Anlage ist recht belebt, doch die Gestalten, die seinen Weg kreuzen, machen denselben verdächtigen Eindruck auf ihn wie schon jene in Schwabing. Die in den offenen Droschken und auf den Bänken sind von der gleichen puppenhaften Reglosigkeit und scheinbaren Hingabe an die wärmende Sonne. Andere wirken blass, übernächtigt, vom Licht bedroht wie Vampire. Ein großer Mann mit wirrem Bart und abgerissenen Kleidern tritt aus einer Bedürfnisanstalt. Er nestelt hastig seine Hose zu. Dabei schaut er sich ängstlich um, ob hinter ihm nicht allzu schnell der hübsche Knabe hinausschlüpft, den er mitgenommen hatte. Ein anderer steht unwillig am Wegrand und lässt sich von einer Frau in Hosen die Schminke aus dem Gesicht wischen. Immer wieder befeuchtet sie ihr Taschentuch mit Spucke und reibt ihm den Zinnober von den Wangen, das Karmesin von den Lippen. Der jungenhafte Mann legt seine schmalen Hände an verschiedenen Stellen auf die Frau, ohne dass sie sich irgendwo wohl fühlen würden. Dieser magere, bei aller Misslichkeit seiner Lage hochmütig dreinblickende Mann mit dem schulterlangen, glatten schwarzen Haar, gestern noch schwul und Anarchist, bald verheiratet und Psychoanalytiker, wird in Hesses Leben einmal eine Rolle spielen. Er heißt Johannes Nohl.
Hesse geht weiter zum Monopteros. Auf einmal hat er Lust, den künstlichen Hügel mit dem kleinen Tempel zu erklimmen. Oben ist er allein. Er bleibt eine Weile sitzen, betrachtet die Wiese zu seinen Füßen und die sich dahinter erhebende Silhouette der Stadt mit ihren vielen Kirchtürmen. Er selbst hat heute keinerlei poetisches Gefühl, nur dieses Befremden, im falschen Stück, im absolut falschen Leben zu sein. Er weiß, dass es zum Teil vom Kater und zum Teil von dem ihm ungewohnten, rauschhaften Stadtleben herrührt. Er spürt an diesem Morgen Abwehr gegen das Quere und Ungeordnete im Leben, das echte Nichts tun und das prinzipielle Verachten von Regeln. Diese Abwehr verschließt ihm gewisse Möglichkeiten im Leben wie beim Schreiben. Er selbst kritisiert sich als Autor von Idyllen. Dabei hat er durchaus dunkle Regungen bis hin zur Mordlust. Die Notwendigkeit, sie darzustellen, spürt er vorerst kaum. Vielmehr geht es ihm wie den alten Dichtern um das Schöne.
Er stellt sich vor, wie die Zehntausende seiner Leser die große Wiese vor ihm füllen. Für sie würde er gern Bleibendes schaffen. Im vergangenen Jahr saß er schon mal hier und sah dem Vollmond zu, der über die Dächer der großen Gebäude an der Ludwigstraße wanderte, bis er riesenhaft gebläht und rötlich zwischen den spitzen Kirchtürmen drüben festklemmte, wo er der aufgehenden Sonne nicht weichen wollte. Das war ein Moment vollkommener Schönheit. Der Moment zerrann, und Hesse gelang es nicht, jene Schönheit auf Papier zu bannen. Es schien ihm, als sei über den Mond und die Morgendämmerung alles Gültige bereits gesagt. Aus diesem Grund gibt es keine wahren Dichter mehr.