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Dagmar Nick zum 90. Geburtstag

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Foto: Brigitta Rambeck

Im Mai 2016 wurde eine der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen nach 1945 neunzig Jahre alt. Die Münchner Künstlerin und Autorin Brigitta Rambeck hat für die kommende Ausgabe von Literatur in Bayern eine Hommage an Dagmar Nick, eine der großen literarischen Stimmen der Nachkriegszeit, geschrieben. Brigitta Rambeck, die unter anderem mit dem Schwabinger Kunstpreis augezeichnet wurde, leitet seit Jahren den literarischen Seerosenkreis in München.

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Wo anfangen, was auswählen, aus einem so reichen Leben und einem ebenso reichen Werk?

Schon als 19-Jährige ließ Dagmar Nick ihre lyrische Stimme vernehmen – und wurde auch gehört, als eine der Ersten nach dem Krieg, die nicht literarisierte Verdrängungsprotokolle, sondern literarische Augenzeugenberichte bot und diese trotz ihrer großen Jugend bereits in gültige Form zu gießen verstand.

1945 veröffentlichte Erich Kästner ihr Gedicht Flucht in der Neuen Zeitung in München. In seinem Begleitwort steht: „Wie oft haben sich in den vergangenen Jahren diejenigen unter uns, die beiseite standen, gefragt, was wird, was kann aus den Jungen werden, aus denen, die nie, keine Sekunde lang, erlebt haben, was der kulturelle Austausch zwischen den Völkern vermag und welches Glück es bedeutet, sagen und schreiben zu dürfen, was man ehrlicherweise empfindet und denkt.“ Dagmar Nick gehört zu den Wenigen, die bereits kurz nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes die durchlittene jüngste Vergangenheit in ehrlichen, unverblümten Worten beschwor.

Grund zu heiterer Weltbewältigung  bestand für sie damals nicht – kurz nach der Flucht nach Süddeutschland, gerade erst den Repressalien entronnen, denen die halbjüdische Mutter und damit die ganze Familie während des Dritten Reichs ausgesetzt war, nun auch noch konfrontiert mit dem Verlust des Bruders, der im Krieg geblieben war. Darüber hinaus scheiterte ihr Lebenstraum, Schauspielerin und Chansonsängerin zu werden, an einer schweren TBC-Erkrankung.

Dennoch verlor sie nie den Mut. Auf dem Krankenlager bereitete sie sich auf die Zukunft vor – lernte Englisch, las Bücher über Kunstgeschichte, Malerei, Architektur, Archäologie  –  ein Studium, das ihr dann beim Verfassen ihrer Reisebücher zugute kam. Stets hatte sie auch Bleistift und Papier bei sich, um die Gedichte  zu notieren, die ihr, wie sie sagt, quasi „zufielen“ wie ein Geschenk, während die Prosatexte, die sie später schrieb, harte Arbeit bedeuteten.

Ihren Mut verdankt sie einer intuitiv lebensbejahenden Einstellung und der gewiss nicht sehr weit verbreiteten Fähigkeit, das Leben ernst, sich selbst aber nicht allzu wichtig zu nehmen. Die Basis dafür wurde in ihrer Familie gelegt, in der  zweierlei  Dinge  im Mittelpunkt standen – nämlich „Liebe und Musik – und beides gab es von morgens bis abends“*.

Dagmar Nick wurde 1926 als Kind des Komponisten, Dirigenten und Musikkritikers Edmund Nick und der Konzertsängerin Kaete Nick-Jaenecke in Breslau geboren, wo der Vater von 1924 bis 1933 als musikalischer Leiter  des neu gegründeten Breslauer Rundfunksenders fungierte. Als er von den Nazis seiner Stellung enthoben wurde, übersiedelte die Familie nach Berlin, wo das Ehepaar Nick durch Vermittlung von Werner Finck in der berühmten Katakombe ein bescheidenes Auskommen fand, bis diese im Mai wegen „staatsfeindlicher Propaganda“ geschlossen wurde.

Musik war in Dagmar Nicks Elternhaus allgegenwärtig: „Durch sie habe ich auch die Literatur kennengelernt, durch Lieder von Mörike, Storm, Heine, Goethe...“*, sagt sie. So erklärt sich auch das Bedürfnis nach Rhythmus und Sprachmelodie, das nicht nur Nicks Lyrik, sondern auch den Sprachduktus ihrer Prosatexte prägt.

Ihren frühen Erfolgen als Lyrikerin stand Dagmar Nick mit distanzierter Ironie gegenüber. Am 25. August 1947 notierte sie in ihrem Tagebuch: „Jeden Tag hageln Briefe von Lesern ... Sehr verrückte Schreiber, ich sammle offenbar nur Irre um mich.“ Ihre Schriftstellerei wertete sie zunächst nur als  Nebenbeschäftigung. „Ich wollte endlich einen Beruf erlernen“*, kommentiert sie. Von einer renommierten Graphologin erhielt sie drei Jahre lang Unterricht am Krankenbett. Im Anschluss studierte sie in München Psychologie und machte ein Examen am Graphologischen Institut – Prüfer war der Autor und Graphologe Ernst Hoferichter. (1)

Doch das Schreiben ließ sie nicht los. Am bekanntesten ist sie wohl als Lyrikerin – vielfach verglichen mit Zeitgenossinnen wie Rose Ausländer, Hilde Domin und Ingeborg Bachmann, deren Pathos und oftmals überhöhter Tonfall Dagmar Nick jedoch wesensfremd ist. Gedichte durchziehen als Kontinuum ihr gesamtes literarisches Schaffen, herausgegeben in zahlreichen Buchveröffentlichungen sowie in Anthologien und Schulbüchern. Auch zum 90. Geburtstag ist ein Lyrikband geplant.

Während ihrer ersten Ehe mit dem Übersetzer, Dramaturgen und Vogelliebhaber Robert Schnorr entstanden auch Prosatexte, darunter Hörspiele. Die Ehe scheiterte – dazu Dagmar Nicks lakonischer Kommentar: „Meine Emanzipation beginnt. Meine wilden Jahre“.

In diesen „wilden Jahren“ findet sie hinaus in die Welt und zugleich zu sich selbst. Von 1959 bis 1963 unternimmt sie vier Israelreisen. Eine zweite Ehe hält sie über Jahre dort fest. Sie bereist die entlegensten Stätten, liest die alten Schriften, studiert Geologie, Fauna und Flora der Wüsten vor Ort. Ihr erstes Reisebuch Einladung nach Israel, entsteht, ein zeitloses Buch aufgrund der nahtlosen Verschmelzung von aktuellem Erfahrungsbericht und historischem bzw. mythologischem Hintergrund. 1968 veröffentlicht sie eine der ersten Dokumentationen über das neue Israel: Israel – gestern und heute.

Es folgen weitere Reisebücher – u.a. über Sizilien und Rhodos, für die Kurt Braun, Arzt und Fotograf, die Bildbeiträge liefert. Er wird ihr dritter Mann, mit ihm kehrt sie 1967 endgültig nach München zurück.

Die Reihe der Reisebücher endet abrupt mit  seiner  Erkrankung, die ihn bis zu seinem Tod, 15 Jahre später, an den Rollstuhl fesselt. Dagmar Nick hat diese Jahre mit zahlreichen Gedichten begleitet, klassisch strengen Wortminiaturen ohne jeden Beigeschmack von larmoyanter „Bewältigungslyrik“.

In dieser Zeit entstanden auch  ihre schönsten Prosatexte, Summe ihrer Bildungs- und Lebenserkenntnisse: In drei Monologen hat Dagmar Nick drei berühmte mythische Frauengestalten verschiedener Kulturkreise gewissermaßen neu erfunden: Medea, Lilith und Penelope – aus der Sicht einer lebenserfahrenen Frau unseres Zeitalters. Entwaffnend ist die Ironie, mit der die  Heroinnen und namentlich die Heroen des Mythos auf  menschliche Dimensionen zurückgestutzt werden. Dazu Michael Basse: „… bei der Lektüre von Dagmar Nicks 'Monologen' ... erfuhr ich etwas ganz Neues: dass die Frauen auch Helden sind… Kein Mann, halbwegs bei Verstand, kann sich danach noch andere Frauen wünschen.“

Eines der wiederkehrenden Themen in Nicks Werk kreist um Israel bzw. um die Geschichte ihrer jüdischen Ahnen: 1998 erscheinen die Annalen ihrer schlesischen Vorfahren: Jüdisches Wirken in Breslau. 2015 vollendet sie nach umfangreichen Recherchen Eingefangene Schatten – ein Familienbuch, eine Zusammenfassung von vier Jahrhunderten jüdischer Geschichte in Deutschland anhand ihrer mütterlichen Familie bis hin zu den spanisch-sephardischen Wurzeln. Ein Buch, das erstaunliche Wissenslücken über die Lebensbedingungen der Juden in Deutschland schließt,  sachlich, voller Humor, ohne jede Anklage.

Eine klarsichtige, unwehleidige Heiterkeit durchzieht Dagmar Nicks gesamtes Schaffen, das selbst vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Älter- und Verletzlicher-Werden nicht haltmacht. In ihrem Gedichtband Im Stillstand der Stunden finden sich die Zeilen:

„Die Schultern sind schwerer

geworden. Aber ich habe noch

eine leichte. Auf die nehm ich

was hart macht.“

In diesem Sinne: alles Gute zum 90. Geburtstag, Dagmar Nick!

 

Dagmar Nick und ihr Vater der Komponist Edmund Nick

 

*Interview mit Dagmar Nick, 2001

(1) Neben vielen Auszeichnungen erhielt Dagmar Nick auch den Münchner Ernst-Hoferichter-Preis (2006).