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21.12.2015, 15:40 Uhr
Uwe Timm
Text & Debatte
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© Michael Döschner-Apostolidis

Eine Fluchtgeschichte (3): aufgeschrieben von dem Schriftsteller Uwe Timm

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© Max Kratzer

Im Vorfeld des Literaturfests München hat eine Reihe von Münchner Autorinnen und Autoren Flüchtlinge kennengelernt und gemeinsam mit ihnen ihre Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Die Hoffnung im Gepäck hieß in der zweiten Festivalwoche die darauf aufbauende Veranstaltungsreihe des forum:autoren, und es ist zugleich der Titel einer Anthologie, die auf Anregung von REFUGIO München im Allitera Verlag erschienen ist. Darin finden sich Texte u.a. von Albert Ostermaier, Tilman Spengler, Friedrich Ani, Lena Gorelik, Doris Dörrie oder Dagmar Leupold. Die entstandenen Porträts, Reportagen, Interviews und Berichte wurden vom 23. bis 27.11.2015 im Lyrik Kabinett vorgestellt, meist auch mit Beteiligung der Geflüchteten. Wir publizieren einen Auszug aus dem Beitrag des Schriftstellers Uwe Timm.

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Am Ende einer langen Reise

Sehen kann man sie jeden Tag, abends, in den Nachrichten, Menschen, die durchnässt mit Gummibooten in Griechenland anlanden oder von maroden Fischerbooten im Mittelmeer gerettet werden, wenn sie denn nicht ertrinken. Dann allerdings sehen wir die Leichensäcke auf den Kais der italienischen oder griechischen Häfen liegen. Wir sehen die überfüllten Züge in Mazedonien und hier, in Deutschland, die Schlangen der Bedürftigen vor den Ämtern oder bei der Essensausgabe in einem Zeltlager für Flüchtlinge.

Allerdings rückt die mediale Wiederholung der Bilder auch das Leid fern und lässt die Anteilnahme schwinden. Man weiß, Krieg, Hunger und Not sind die Gründe der Fluchtbewegung, Gründe, die auch hier, in unserer Gesellschaft, in unserem Wirtschaftssystem liegen. Politisch bewusste Bürger wissen, dass der Reichtum der Industrienationen auch der Armut der Länder der Dritten Welt geschuldet ist. Aber das Ausmaß der Not des Einzelnen, der seine Heimat verlässt und Schutz sucht, erschließt sich erst, wenn man ihn trifft, ihm gegenübersitzt und sein Schicksal hört und erfährt, was er erlebt und erlitten hat, wie beispielsweise diese junge Frau aus dem Kongo, die ich in einem nüchternen Zimmer der Hilfsorganisation Refugio getroffen habe.

Schon die Antwort auf meine Eingangsfrage erweist, dass Cécile, wir haben den Namen geändert, eine politisch kenntnisreiche Frau ist.

Ob sie Patrice Lumumba kenne? Ja, sie strahlt, natürlich, Patrice Lumumba, das war der erste frei gewählte Ministerpräsident des Kongos. Dieser Mann steht geradezu beispielhaft für viele Probleme Afrikas: Der Kongo war belgischer Kolonialbesitz, wurde auf grausame Weise ausgeplündert, Millionen Afrikaner verloren dabei ihr Leben. Dann kam die Unabhängigkeit unter dem sozialistischen Ministerpräsident Lumumba. Ihm blieb nicht viel Zeit, sein Land zu verändern. Mit Hilfe der CIA und des belgischen Geheimdienstes wurde er von korrupten afrikanischen Politikern gestürzt, verhaftet, gefoltert und getötet. Danach wechselten die afrikanischen Machthaber, wie der Name des Landes von Zaire zu Demokratische Republik Kongo gewechselt hat, geblieben ist die Gewalt, die Einschüchterung der Presse, bis hin zum Mord kritischer Journalisten, und geblieben ist die Korruption.

Cécile erzählt, sie habe sich politisch zunächst in der Regierungspartei PPRD (Parti du Peuple pour la Reconstruction et la Démocratie) engagiert und in einer Wohngebietsgruppe gearbeitet. Unzufrieden mit deren Politik, habe sie sodann in der MCL (Mouvement de Libération du Congo) mitgearbeitet, schließlich in einer von dieser abgespaltenen Gruppe, die sich verstärkt für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzte, für mehr Gerechtigkeit kämpfen wollte, vor allem auch für Pressefreiheit. Eine öffentliche Versammlung wurde abgehalten, um die politischen Ziele bekannt zu machen. Das Regime schickte Soldaten. Die schossen in die Luft, zerstreuten die Demonstranten und verhafteten einige der Aktivisten, darunter auch sie, Cécile, die in ein Polizeiauto verfrachtet wurde. Die Festgenommenen wurden in ein weit außerhalb Kinshasas liegendes Gefängnis gebracht. Cécile berichtet, stockend, sprunghaft, man spürt, wie sehr ihr die Erinnerungen zusetzen, erzählt, wie sie ins Gefängnis transportiert und in einen Keller eingesperrt wurde.

(c) Max Kratzer

Ja, ich wurde in ein Gefängnis gebracht. Das Gefängnis war im Untergeschoss, wie ein Käfig, schrecklich, ganz furchtbar. Dort wurde ich bedroht und von den Soldaten auch vergewaltigt, bis heute leide ich darunter. Ja, ich wurde dort richtig bedroht. Mein Vater war bereits tot. Er wurde in einem Feuergefecht zwischen der Miliz des MCL und der Armee von Kabila, der heute Präsident ist, von einer Kugel getroffen und starb. Mein Vater hatte einen Freund, der bei der Partei war und von seinem Tod gehört hatte. Er wusste, dass man uns festgenommen hatte. Meine Mutter rief ihn an und sagte ihm, „meine Tochter ist festgenommen worden“. Er wusste, wenn meine Mutter ihn anruft, dann sind die anderen verschwunden. Am dritten Tag im Gefängnis bekam ich nur etwas Wasser, das ich aber nicht getrunken habe, weil ich Angst hatte, man könnte mir etwas antun. Ich habe auch nichts gegessen, weil ich wusste, ich war schon tot, für mich war das bereits der Tod. Als dieser Mann vom Tod meines Vaters gehört hatte, lief er zu meiner Mutter und wollte mich zu seiner Frau haben. Das wollte meine Mutter aber nicht und sagte ihm, „das geht nicht, du bist sein Freund gewesen, du bist jetzt wie ihr Vater, es kann nicht sein". Als meine Mutter ihn anrief, war er genau dort, wo ich war. Man hatte ihn als „Papa Commandant“ angesprochen. In Afrika ist jeder Soldat Commandant, alle sind Commandants. Er war gekommen, um mir zu sagen, „wenn du willst, hole ich dich hier raus, wenn du hier in diesem Gefängnis bleibst, wirst du sterben, denn niemand weiß, dass du hier bist, das will ich nicht, was willst du?“ Er war zufällig zu uns gekommen, und als er gesehen hat, dass alle weggelaufen sind, hat er mit einigen Leuten gesprochen und ist dann zu mir gekommen und hat gesagt, „siehst du, man darf das nicht machen, man muss sich so und so verhalten“. Ich habe ihm geantwortet, nein, wir sind jung und wollen sagen können, was wir denken, aber Meinungsfreiheit gibt es nicht in unserem Land. Wenn du redest, selbst im Fernsehen, dann töten sie dich. Auch wenn du ein Menschenrecht hast, will der Präsident, dass man dich tötet“. Viele Menschen sind auf diese Weise umgebracht worden, viele Journalisten, vor allem Journalisten, Menschenrechtler, Leute von der Opposition, Oppositionelle, viele sind so zu Tode gekommen. Er hat dann gesagt, „wenn du einverstanden bist, hole ich dich hier raus, ich will nicht, dass du erstickst“. Ich musste das akzeptieren. Und dann hat er noch gesagt, er wolle mich zu sich nach Hause bringen als seine Frau, damit hatte ich kein Problem. Ich musste hier raus. Er meinte, „heute geht es nicht, morgen Abend holen wir dich“. Um mich wegzubringen, musste er erst noch mit einigen Leuten reden, denn die Wachleute würden sicher Probleme bekommen, nachdem ich verschwunden war. Am nächsten Abend kam er mit einem Wagen der Armee und brachte mich sehr, sehr weit weg zu einer Wohnung. Dort wollte er Sex, und als ich nicht wollte, drohte er mir, er würde mich verraten und dann würde ich sicher getötet. Ich wollte aber leben und ließ es geschehen, niemand will gerne sterben. Eines Tages wollte er weggehen und vergaß, das Fenster zu schließen. Weil es mir zu warm war, hatte er es einen Spalt geöffnet, denn die Wohnung war im 3. Stock. Sonst hatte er das Fenster immer mit einem Vorhängeschloss verschlossen und es erst wieder geöffnet, wenn er zurück kam. Er betrachtete mich als seine Frau des Hauses, man aß und trank zusammen, ich wollte das alles aber nicht, aber ich war gezwungen, es zu akzeptieren. Ich wollte nicht als seine Frau in diesem Haus leben. Das Haus war sehr, sehr weit weg. Er hatte also vergessen, das Fenster zu schließen, und ich sah, wie er mit anderen Polizisten wegfuhr. Ich wartete noch etwas, dann knotete ich aus Betttüchern einen Strick und flüchtete ...