D. H. Lawrence in Oberbayern: Lenggries

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Vorderriß (Lenggries) um 1900. Fotochromdruck.

Am 6. August 1912 brechen Gilbert (Lawrence) und Johanna (Frieda) früh auf und verlassen Bad Tollingen (Bad Tölz). Entlang der Isar wandern sie Richtung Lenggries: „Am Nachmittag waren sie im hohen, wilden Felstal der jungen Isar. Holzfäller, wie wilde verschlagene Männer aus den Sagen, schafften an den Flößen.“ (Mr. Noon, S. 353) Hier in unmittelbarer Nähe kommt Lawrence vorbei an allerlei Wegkreuzen, Martertafeln und Feldkapellen, darunter auch an jenem kleinen, geschnitzten Christus „hinter einem Glassturz“, den er in seinem Essay Das Kruzifix in den Bergen (The Crucifix Across the Mountains) einfühlsam beschreibt:

Wandert man weiter auf Österreich zu an der Isar entlang, bis der Strom schmaler und weißer wird und die Luft kälter, dann weicht der füllige Glanz der nördlichen Berge, die so wundervoll leuchten und mit ihren Blumen prunken; Dunkelheit und ein Gefühl des Verwunschenen überkommt einen. Dort oben sah ich einen andern, kleinen Gekreuzigten, der mir die Seele dieser Gegend zu sein schien. [...] Er meditierte, ein wenig verdrossen und eigensinnig, die Augenbrauen in sonderbarer Abstraktion gehoben, sein Ellbogen rastete auf dem Knie. Ganz für sich sitzt er und sinnt und träumt, er trägt eine kleine Krone aus vergoldeten Dornen und den kleinen Umhang aus rotem Flanell, den eine Bäuerin ihm nähte. [...] Etwas Nachdenkliches haftet ihm an, als wisse er, daß das alles zuviel für ihn ist. Für ihn gab es keine Erlösung, auch durch den Tod nicht. (Mexikanischer Morgen und Italienische Dämmerung, S. 418f.)

Für Lawrence ist das Kruzifix Zeichen eines uralten, durch menschliche Zivilisation und Aufklärung unverfälschten Glaubens. Es ist aber keine Frage nach dem Leben nach dem Tod für ihn – eine Frage, die gewissermaßen „der Tod beantwortet“ –, sondern eine nach dem Leben selbst: „Es ist nicht die Frage nach dem Leben oder Nichtleben. Es ist eine Frage nach dem Sein – Sein oder Nichtsein. Durchhalten oder nicht durchhalten, das ist die Frage, denn auch um dulden oder nicht dulden geht es nicht.“ (Mexikanischer Morgen und Italienische Dämmerung, S. 419). Die Antwort auf diese Frage bzw. „das Ergebnis“ erhält der Dichter, wenn auch nur negativ, in der Anschauung der ewigen, „schneeigen“ Natur: „Denn droben strahlt die ewige Strahlung des Schnees unfehlbar, sie empfängt die Ausdünstung allen Lebens und wandelt sich nicht; das Ergebnis ist leuchtend und unsterblich, ist das schneeige Nichtsein. Was aber ist dann das Sein?“ (Ebda.)

Wahrscheinlich gehört der Christus-Kruzifix-Schrein zum Kalvarienberg bei Hohenburg nahe Lenggries, einer streng geometrischen Anlage, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts erweitert wird (1726 entsteht hier die Hl. Kreuz-Kapelle, 1865 das Benefiziatenhaus) und bekannt durch ihre barocken Skulpturen aus der Leidensgeschichte Jesu ist.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik