D. H. Lawrence in Oberbayern: Kochelsee

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Kochelsee. Aus: „A. Link: Der Würm-See (Starnberger See) in Oberbayern“. Holzschnitt, 1875. (Bayerische Staatsbibliothek/Porträtsammlung)

Zwischen dem 26. und 31. Mai 1912 halten sich D. H. Lawrence und Frieda Weekley in Beuerberg auf und machen ausgedehnte Wanderungen entlang der Loisach und der Isar. Auf einem ihrer Wege kommen sie auch an den Kochelsee, wo Frieda in einen fast hysterischen Zustand gerät, weil sie Lawrence verloren zu haben glaubt:

Als wir einmal auf einem kleinen Landungssteg am Kochelsee saßen und mit den bloßen Füßen baumelten, steckte mir Lawrence meine Fingerringe an die Zehen, um zu sehen, wie sie im klaren Seewasser glitzerten. Plötzlich überraschte uns ein Regenschauer. Hinter uns war eine Baumgruppe, an der die Straße vorbeiführte. Wir liefen dem Schutz zu und müssen wohl in entgegengesetzter Richtung gerannt sein. Ich sah mich um, Lawrence war nicht da. Angst überkam mich, ich hatte ihn verloren, vielleicht war er ertrunken, in den See abgeglitten. Ich rief. Ich suchte, er schien sich aufgelöst zu haben. Ich würde ihn nie mehr wiedersehen. Immer war ja dieses seltsame Unirdische um ihn.

Als ich ihn endlich eine Stunde später die Straße entlang kommen sah, war ich einem hysterischen Zustand nah. Ich schalt ihn „Bruder Mondschein“, wie im deutschen Märchen – das mochte er nicht. (Nur der Wind..., S. 73)

In Mr. Noon wird eine ähnliche Geschichte erzählt. Dort ist sie allerdings in einen anderen Kontext eingebettet – lange bevor Gilbert und Johanna nach Kloster Schaeftlarn (Beuerberg) aufbrechen, um „in aller Offenheit zusammenzuleben“ (Mr. Noon, S. 289). Die Liebenden haben gerade ihre „berühmte erste Nacht“ in München verbracht, ohne dass diese für einen der beiden als „Erfolg“ gewertet worden wäre (Mr. Noon, S. 192). Am nächsten Tag machen sie einen Ausflug „nach Kochel, an den Kochelsee“:

Als der Nachmittag weiterverstrich, standen sie auf und gingen zum See. Er war tief und dunkelblau, dunkelgrün, bleiern eiskalt. Es gab einen kleinen Pier, einen kleinen hölzernen Steg neben einem kleinen Badehaus, das verschlossen war. Sie saßen auf diesem Steg und tauchten die Füße in das träge, klare Wasser und betrachteten das Licht auf den steilen Hängen gegenüber und die tiefen, in die bedrängenden Berge eingehüllten Schatten. Sie schienen ganz allein zu sein – es war niemand anders da. (Mr. Noon, S. 194)

Während in Friedas Erinnerungen ein äußeres Ereignis – das plötzlich hereinbrechende Unwetter – zur Verlustangst führt, handelt Johanna aus instinktivem Drang heraus, von Gilbert „wegzukommen und allein zu sein.“ (Mr. Noon, S. 194) Ihre Tat bewirkt jedoch das Gegenteil; statt für sich zu sein, überkommt Johanna Angst („eine seltsame Angst vor Männern, davor, angegriffen zu werden“) und ein schreckliches „Gefühl der Leere“, weil sie Gilbert am kleinen Steg nicht wiederfindet:

Sie fuhr auf und blickte sich entsetzt um. Die düsteren Berge standen fast über ihr. Sie blickte zurück auf das kleine Freizeitgelände. Leer. Es war alles leer, leer. Er war im dunklen, stillen Wasser des Kochelsees ertrunken, und die kalte Luft war von entsetzlicher Verlassenheit erfüllt. Sie starrte um sich. Sie rief, und rief wieder. Niemand gab Antwort. (Mr. Noon, S. 195)

Obwohl sie ihn vor Fremden als „Mein Mann“ bezeichnet, bleiben Johannas Gefühle gegenüber Gilbert weiterhin ambivalent: „Inmitten furchtbarer Angst, schrecklicher Verlassenheit, war eine winzige Regung von Befriedigung, daß sie frei war. Denn in gewisser Weise fürchtete sie ihn – empfand ein unverständliches, leichtes Grauen vor ihm.“ (Mr. Noon, S. 196) Als sie ihn am Ende des Stegs endlich entdeckt, fällt die Anspannung aber von ihr ab: Es stellt sich heraus, dass auch Gilbert in „voller Bestürzung und Angst umhergelaufen war und nach ihr gesucht hatte.“ (Mr. Noon, S. 196)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik