Elf

Mister Krock war nicht da, sonst hätte er auf mein Läuten am Gartentor längst angeschlagen. Ich drückte die Gittertür auf, die nie verschlossen war, und klingelte an der Haustür. Ziemlich lange wartete ich vergebens auf Antwort. Schließlich öffnete mir Frau Dömrath, doch nur halb. Auf die Frage, ob Leon da sei, blickte sie mich zwischen Tür und Angel aus verquollenen Augen überrascht an und schüttelte dann müde den Kopf.

„Wir sind verabredet.“

„Wie kann das sein? Paul hat sie vorgestern früh zum Zug gebracht.“

„Gari und Leon? Wohin sind sie denn?“

„Nach La Baule. Mit dem Schüleraustausch.“

„Jetzt, in den Ferien?“

„Es ist eine private Einladung.“

Frau Domröth litt oft an Migräne, das wusste ich. Aber diese Miene bekundete etwas anderes als körperlichen Schmerz. Ich fragte nicht, wann ihre beiden Kinder zurückkehren würden, sondern entschuldigte mich für die Störung.

„Da fällt mir ein: Ich soll dir von Gari etwas geben. Ich glaube, es gehört dir.“

Sie verschwand in der Wohnung und kehrte mit einem braunen Umschlag zurück. Ich fühlte durch das Papier die Kugelform des Steins und bedankte mich zum Abschied.

Ich ging um das Haus und setzte mich auf die kleine Bank zwischen der Dartscheibe, die Leon nie benutzte, und der Tischtennisplatte, an der wir so viele Partien gespielt hatten. Vielleicht würden wir keine mehr spielen. Und vielleicht die sechs Wochen der Sommerferien nichts voneinander hören.

Zu Hause machte ich mir diesmal nicht die Mühe, die steinharten Muskatkugeln geduldig zu Staub zu zerschaben, sondern leerte alle im Küchenschrank verfügbaren Tüten und Dosen des Gewürzes in einen Krug mit heißem Honigwasser. Nach einer Stunde legte ich mich im Dachzimmer aufs Bett, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte lange an die Decke, bevor ich den braunen Umschlag öffnete. Die Oberfläche des Regenbogen­obsidians war von feinen Rissen durchzogen. Kein Hammerschlag konnte sie hervorgerufen haben, eher kleine Meißelhiebe. Das kostbarste Stück meiner Sammlung war jetzt wertlos. Ich starrte die steinerne Pupille so lange an, bis die konzentrischen Ringe darin zu kreisen begannen. Ich rieb mir die Augen. Das Kreisen hielt an. Sanft, ohne Anflug von Übelkeit, hatte die Wirkung der Droge eingesetzt.

Ich stand auf und kontrollierte mein Gesicht im Spiegel. Ohnehin schon sehr bleich, wurde es unter dem forschenden Blick noch fahler. Noch eine andere Veränderung ging in ihm vor: ganz allmählich verschwammen seine Linien und planierte sich sein Relief; es wurde nach und nach blank wie ein Stopfei. Doch die Gesichtszüge verschwanden nicht aus der Welt, sondern wanderten auf die Rückseite des Schädels. Ich konnte sie zwar dort nicht sehen, aber deutlich ertasten. Vom Hinterkopf schoben sie sich den Nacken hinunter auf den Rücken und kreisten dann helixförmig um meinen Oberkörper – vom Rücken auf die Brust und von dort abermals auf den Rücken. 

Zur Ruhe kam das Kreisen des reisenden Gesichts erst an einer Position, in der die Mundpartie mit dem Nabel zusammenfiel. Aus dem Nabel ertönte ein glucksendes Lachen, das sich allmählich verstärkte. Bevor es als schallendes Gelächter aus meinem Bauch hervorbrach, riss ich mich von dem Anblick los. Die tastenden Hände bewiesen mir, dass Nase, Lippen, Kinn und Stirn noch oder wieder an ihren Plätzen waren. Ich wickelte ein Tuch um den Lauf des Luftgewehrs, packte es in den Rucksack und machte mich auf den Weg.