Zehn

An jenem Montag kehrte meine Mutter ungewöhnlich früh aus der Stadt zurück und traf mich in der Küche an, als ich meinen Teller gerade mit nach oben nehmen wollte.

„Wieder nur kalte Sachen? Wollen wir nicht zusammen essen? Ich mache uns schnell den Eintopf von gestern warm.“

Ich hatte zwar keine Lust mit ihr über das Jahreszeugnis zu reden, das ich gestern nach Hause gebracht hatte, aber irgendwann würde sie wohl darauf bestehen. Als wir dann am Tisch saßen, kam sie gar nicht auf das Zeugnis zu sprechen. Wahrscheinlich reichte ihr, dass ich nicht durchgefallen war. Stattdessen sagte sie:

„Kann es sein, Ansgar, dass du in letzter Zeit abgenommen hast?“

„Die Hosen passen mir noch.“

„Ich meine auch mehr im Gesicht. Solche hellen Ringe um die Augen hattest du als Kind mit dem Asthma. Was ist los mit dir?“

„Was soll sein? Schule ist anstrengend.“

„Was machst du dir, wenn ich abends nicht da bin? Oder lässt du das Abendbrot ganz aus?“

Mein Abendbrot bestand aus Corned Beef und Keksen. Und Muskatnuss. Aber Muskatnuss hatte zu wenig Kalorien. Davon musste ich gar nicht erst anfangen. Ich zuckte die Schultern.

„Vielleicht isst du ganz einfach zu wenig oder zu wenig Frisches. Ich könnte vorkochen, wenn du das möchtest. Du müsstest es dir nur aufwärmen.“

„Du weißt doch: ich mache mir nichts aus Gulaschsuppe mit Kartoffeln.“

Eine Weile aßen wir schweigend. Eine merkwürdige Stimmung breitete sich in der Küche aus. Ganz gegen ihre Gepflogenheiten machte AMC lange Pausen zwischen den Bissen und schaute derweil geradeaus in die Luft, als würde sie in einer imaginären Zeitung lesen. Manchmal war nur das Klacken meines Bestecks zu hören. Auch ich drosselte meine Essgeschwindigkeit, weil sie mir ungehörig vorkam. Offensichtlich lag meiner Mutter ein Thema auf der Seele, das für sie nicht leicht anzuschneiden war.

Schließlich setzte sie die Brille ab und fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn und mit dem Daumen dann über die Augenlider, als wolle sie dort den Lidschatten kontrollieren, den sie nicht trug. Ich wandte den Blick ab, als habe sie sich vor mir in unstatthafter Weise entblößt und begann wieder schneller zu essen, weil sie weiterhin schwieg. Ihre Brille lag neben dem arbeitslos gewordenen Suppenlöffel; das schwarze Gestell rempelte mit den scharfen Kanten gegen dessen glänzende Wölbung. Auch AMCs hageres Gesicht hatte Kanten und Ecken, um das Kinn, die Wangenknochen und die Stirn. Aber ohne diese dunkle Klammer rundete es sich zu einem stillen, ausgewogenen Oval unter den dunklen Haaren.

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, was du in den Ferien vorhast. Willst Du mit Leon verreisen? Oder wollt ihr euch mit mehreren zusammentun?“

„Das werden wir nachher besprechen. Vielleicht bleibe ich auch hier.“

„Ganz allein? Die ganze Zeit?“

„Ich werde mich schon nicht langweilen.“

„Das weiß ich. Langeweile war nie dein Problem. Aber der Kontaktfreudigste warst du auch nie. Es tut mir leid. Ich werde im Sommer länger weg sein.“

„Ach ja.“

„Willst du nicht wissen, mit wem?“

„Mit dem Neuen, oder?“

„Ich glaube, es wird Zeit, dass du Eberhard kennenlernst. Er hat schon oft nach dir gefragt.“

„Danke. Kein Bedarf.“

Sie hatte zu Ende gegessen, wie ich auch. Sie schob den Teller noch nicht zurück. Es steckte noch etwas in ihrem Schweigen, das mich auf meinem Stuhl festhielt, und zwar mehr als nur die zwei Stuck Kuchen, die sie zu meiner Überraschung aus dem Kühlschrank holte. Während sie ihres mit der Kuchengabel vorsichtig betastete, aß ich meines schnell und gierig bis zur Hälfte auf. Als ich mich dann ihrem Tempo anpasste, wanderte mein Blick zwischen dem Herd und ihrer dunkelblauen Bluse hin und her, mit Stippvisiten in ihren unverhofft weichen Zügen: bei den langen Wimpern, den schmalen Nasenflügeln, den graziös geschwungenen Brauen. Die durch kleine Asymmetrien und den fleckigen Teint ramponierte Noblesse, die ich Évariste Matthieu zähne­knirschend zugestand, durchschimmerte verschwommen den Vorhang aus abgestumpfter Gewöhnung vor diesem nur scheinbar vertrauten Gesicht, das sich jetzt zu mir vorbeugte.

„Wen oder was willst du eigentlich kennenlernen? Deine Steine. Deine Bücher. Was gibt es sonst noch, was dich interessiert? Und warum darf ich von deinem Leben so wenig erfahren?“

„Wenn Du etwas wissen willst, frag doch.“

„Ich will nicht in dich dringen, Ansgar. Aber was Eberhard angeht, bin ich mir sicher, ihr könntet miteinander. Dir fehlt ein älterer Mann, das weiß ich.“

„Ein Dreck fehlt mir.“

„Warum dieser Ton? Nimmst du mir übel, dass ich endlich einen Menschen kennengerlernt habe, der zu mir passt?“

„Schön für dich.“

Ihr vorgebeugter Kopf wich zurück, bis er anscheinend kerzengerade auf der Wirbelsäule saß. Von dort schaute sie mich an mit einer Miene ohne Groll und Vorwurf, sondern so, als mache ihre Seele Ferien auf einer Veranda, auf der auch ich mich niederlassen könnte. Ich wurde unwillkürlich rot im Gesicht, als ich versuchte, diesem Blick standzuhalten. Das Erröten hatte damit zu tun, dass ihre Augen mit ihrem türkisen Schimmer mich an die Augen Garis erinnerten. Es waren leuchtende, scheue, nicht einzufangende Augen, die aus wechselnden Tiefen aufblitzten, wie bei Gari. Das machte mich verlegen. Verlegen machte mich auch die Erkenntnis, dass meine Mutter, jetzt wo sie die Haare wieder länger und offen trug, dazu Schmuck und manchmal rosa Lippenstift, immer noch oder inzwischen wieder eine schöne Frau war. Wahrscheinlich wäre Hella ein sehr hübsches Mädchen geworden, vielleicht zu hübsch, als dass ich als ihr jüngerer Bruder es unbefangen und unverwirrt ertragen hätte. Aber Verwirrung durch die eigene Mutter kam nicht in Frage.

AMC stellte unsere Teller und Tassen übereinander und sagte:

„Nur falls es mit Leon nichts wird: Wir fahren in vierzehn Tagen. Drei Wochen Elba zu dritt. Julian ist elf.“

„Er hat also ein Kind?“

„Ja. Wenn du möchtest, könntest du mitfahren. Vielleicht nicht die ganzen drei Wochen, vielleicht nur eine oder zwei, ganz wie du möchtest. Überlege es dir, Ansgar.“

„Ich kenne die doch gar nicht.“

„Von einer neuen Mutter wollte Julian am Anfang gar nichts wissen. Aber einen großen Bruder hat er sich immer gewünscht.“

„Andere Leute wünschen sich eine große Schwester. Aber man kann im Leben nicht alles haben.“

„Du möchtest also nicht mit?“

„Was soll ich auf Elba?“

Annemarie-Clara setzte wieder ihre Brille auf und sagte nur noch: „Lass ruhig. Ich räume ab. Aber du könntest spülen.“

Statt ihr den Wunsch zu erfüllen, ging ich hinauf in mein Zimmer und haderte mit dem dummen Stolz, der mich ihr Angebot hatte kategorisch ablehnen lassen. Ich fand mich feige, engherzig und stur. Diese Selbsteinschätzung, die ich für realistisch hielt, vertraute ich meinem Tagebuch an. Während ich schrieb, traf ich die Entscheidung, unserer Mutter, Hellas und meiner, ab jetzt alle Buchstaben zukommen zu lassen, die ihr vollständiger Name enthielt. So, wie ich den verstümmelten Berg, dessen Namen ich selbst zu RK Zwo verstümmelt hatte, ab jetzt wieder Rohdenkopf nennen würde, so würde ab jetzt AMC Annemarie-Clara heißen. Dieser Entschluss hinterließ mir einen guten Geschmack im Mund. Aber auf eine Begegnung mit einem Nachfolger meines Vaters namens Eberhard hatte ich nach wie vor keine Lust. Ich empfand keine Angst vor der Einsamkeit der kommenden Wochen. Ich war darin geübt.