Acht

In meiner Vorstellung hätte meine Schwester Hella alles werden und alles erreichen können; und zwar gleichzeitig Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich gegenseitig ausschlossen. Für sie als ungreifbares Wesen galt das Gesetz des Widerspruchs nicht. Wenn ich an sie dachte, was sehr oft geschah, stellte ich sie mir vor als eine sonnenhafte Null, die mit sämtlichen Ziffern auch alle ausdenkbaren Zahlen in sich barg. Hier im Diesseits ging eine solche, in alles verwandelbare Sonne für mich in Gari auf. Ich konnte es nicht verhindern, obwohl für Gari durchaus der Satz vom Widerspruch galt. Doch mein Bild von ihr war kaum realitätsgerechter als dasjenige von Hella, weil ich sie meist aus den Augenwinkeln beäugte: verstohlen, in Spiegeln seitlich angeschnitten, im verwischten Profil, in Fenster- oder Autoglasscheiben durch einen Weichzeichner-Halo geschönt; im Vorbeigehen, zwischen Tür und Angel, wenn ich Leon zu Hause abholte oder wenn ich in Sandros Gelateria vorbeikam und sie mit Miriam am Tisch saß. Diese Diebesblicke hatten mein Bild von ihr geprägt. Ich trug es, ohne jede Untermauerung durch ein Foto, gestochen unscharf im Gedächtnis. Aus der Prägung durch die Indirektheit aller dieser Blicke rührte meine große Scheu, ihr geradewegs in die Augen schauen oder unbefangen auf sie zuzugehen. 

Jedes Mal, wenn ich ihr unverhofft begegnete, konnte ich deutlich spüren, wie ein Gefühlsathlet in mir zum Weitwurf ansetzte. Ich holte mit meinen Gefühlen ganz offensichtlich zu weit aus. Gerade darum bemühte ich mich ihr gegenüber um ein Maximum an Gelassenheit. Selber lässig zu schweigen und sie erzählen zu lassen schien mir das Einfachste, wenn ich sie zum Beispiel vor Sandros Gelateria alleine antraf. Meist war sie bereits in Reitmontur, aber vielleicht hätte sie ja doch noch ein Eis essen wollen, in der Waffel, im Stehen. Aber sie das zu fragen wagte ich nicht.

Man hätte an Garis äußerer Erscheinung einiges aussetzen können: einen quadratischen Po, den etwas gedrungenen Oberkörper, die pastose Kinnpartie oder die zahlreichen, asymmetrisch verteilten Sommersprossen. Aber ihre Augen erschienen mir wie Sterne, wie sie nicht am Himmel stehen; aus ihnen funkelten smaragdgrüne Schimmer, die in einem seltsamen Rhythmus aufblitzten, als schaukelten die Pupillen hin und her und aus unterschiedlichen Tiefen hervor. Garis Gang versetzte der Luft einen Schubs und ließ hinter ihr einen Kondensstreifen erahnen, so als zerriebe ihr geschmeidiger Schritt verborgene Pigmente zu feinstem, unentschlossen zwischen den Farben des Spektrums schillerndem Staub, wie er im Frühling aus Blütenkätzchen wehte und in den ich mit dem Zeigefinger Linien hätte ziehen wollen: die Ellipsen, Parabeln, Hyperbeln und Kegelschnitte einer erotischen Mathematik.

Sie trug ihre langen hellbraunen Haare mal offen, mal in einem Pferdeschwanz, mal in abenteuerlich improvisierten Hochsteckfrisuren. Meist verhüllte ein weiter dunkler Pullover ihre Büste und eine Kurden- oder sonst wie orientalisch anmutende Hose ihre Hüften. Aber ihre Körperformen strahlten durch die Stoffmassen hindurch und ließen den aus unerfindlichen Quellen meinem Speichel plötzlich beigemengten Zucker karamellisieren, so dass mir das Schlucken schwerfiel.

Miriam wirkte in ihrer altmodischen Kleidung, die vielleicht auch den Zweck hatte, ihre Körperfülle zu kaschieren, immer sehr viel biederer. Bei Sandro trug sie an jenem Samstag vor der letzten Woche des Schuljahres einen hellen Faltenrock und eine weite Bluse mit Rüschen. Das aschblonde Haar war mit Seitenscheitel und Dutt gebändigt, und die Füße steckten in hohen, geschlossenen Schuhen, auf denen sie etwas staksend ging.

Gari verstand die Gebärdensprache offenbar fließend, aber selber setzte sie die Hände sparsam ein. Miriam las das Meiste von den Lippen ab oder es zirkulierte zwischen den Freundinnen ein wortloses Verstehen über die Fotos, die vor ihnen ausgebreitet lagen. Vor mir breiteten sich nur die Zahlen und Variablen komplexer Gleichungen aus, die auch Sandros Vanilleeis mir nicht lösbarer machte. Diesmal verließen die beiden Mädchen die Gelateria nicht gemeinsam. Gari blieb und kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschenspiegel, um sich die Lippen nachzuziehen.

Ich klappte mein Heft zu und ging zu ihr hin. Sie betrachtete meine Bemühungen um gestische Verständigung mit strenger Miene. Vielleicht erweckten sie in ihr den Eindruck, ich wolle mich über Miriam lustig machen. Dabei fuchtelte ich nicht etwa wahllos in der Luft herum, sondern versuchte, einige markante Gebärden, die ich zwischen ihr und ihrer Freundin beobachtet hatte, möglichst genau zu kopieren. Ich hielt inne, und einen Augenblick herrschte ratlose Stille, bis Gari sie unterbrach:

„Sag es bitte auf Deutsch, Ansgar.“

„Darf ich mich hersetzen?“

„Warum nicht? Ich muss bloß gleich weg.“

Immer gleich weg zu müssen, das war Gari sich schuldig. Und jetzt, in der Ära Évariste-Matthieu, natürlich ganz besonders. Gerade deswegen brachte ich es über mich, sie zu einem Eis einzuladen. Erwartungsgemäß lehnte sie ab, aber ich gab noch nicht auf.

„Gebärdensprache stelle ich mir sehr schwer vor. Für dich offenbar nicht.“

„Von wegen. Dagegen ist mein Französisch glänzend. Aber eins nach dem andern. An der Uni habe ich noch genug Zeit dafür.“

„Kann man das studieren? Taubstummensprache? Hast du das vor?“

„Ich weiß noch nicht. Meinst du, Sonderpädagogik ist das Richtige für mich?“

Sie schaute mich an, als stelle sie mir eine ernst gemeinte Frage. Was sollte ich anderes äußern als Belanglosigkeiten über das Für und Wieder eines solchen Berufes? Also stellte ich Fragen. Erstaunlicherweise gab Gari mir Antwort. Ich lauschte auf den Klang, nicht den Inhalt der Wörter. Manche schwebten wie Ballons in die Luft hinauf, andere fielen schwer wie Gegenstände nach unten und blieben reglos am Boden liegen. Wieder andere verwandelten sich in Steine. Ich würde sie auf Hellas Grab ausbreiten können.

Gari machte Miene, aufzustehen.

Nein, reiten würde sie nicht, sagte sie auf meine Frage. Aber die beiden Pferde mussten versorgt werden und Herr Schmoll, der Besitzer, war heute verhindert.

„Geh es zu zweit nicht schneller?“

Sie schaute mich an, überrascht und ungläubig.

„Du, Ansgar? Was hast denn du mit Pferden zu tun?“

Offensichtlich hielt sie Schrott, Steine und Englisch für meine einzigen Hobbies. Ich fragte nach Pharaos Stammbaum und während sie ausholte, ihn mir zu erklären, schaute ich auf ihre Hände. Sie waren noch filigraner als die von Évariste Matthieu. Die Nägel waren lackiert, in einem sehr zarten Rosa. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie sich für die Pferdekoppel parfümierte, aber es umgab sie ein zitroniger Duft, der mich vielleicht noch umschweben würde, wenn sie bereits gegangen war.

Unvermittelt frage ich, ob Reiten lernen eine sehr langwierige Angelegenheit sei. Einfacher Trab. Mehr sollte sie mir gar nicht zeigen. Vielleicht ein paar Runden auf der Koppel. Ich wusste ja von ihrem Freizeitstress.

Sie legte die Stirn in krause Falten, die ihr nicht standen, bevor sie sagte: „Übernächsten Dienstag. Wollen wir es da versuchen? Falls ich nicht schon unterwegs bin.“

Ich fragte nicht, wohin. Ich sagte nur, dass ich mich auf die Reitstunde freue. Ich griff zu meinem Rucksack und holte den Stein hervor, den ich ihr schon so lange schenken wollte. Diesen Regenbogenobsidian hätte ich in meiner Sammlung doppelt.

„Hast du den selber gefunden?“

„Schön wär’s.“

„Oder selber geschliffen?“

Ich fing an, mich über die technischen Herausforderungen der Edelsteinschleiferei auszulassen. Aber da musste Gari wirklich los.