Sechs

Ich saß, wenn es irgend ging, in jenen letzten Wochen vor den Sommerferien im Schulbus auf einem der Plätze in der ersten Reihe, unmittelbar hinter dem Fahrer. Gleichgültig gegen meinen Nebenmann mümmelte ich langsam mein Frühstücksbrot und hoffte für die Dauer der Fahrt auf Regen. Denn natürlich setzten sich nur dann die Scheibenwischer in Bewegung. Die Betrachtung ihres monotonen Hin und Her verstärkte die Wirkung der dem Honig untermischen Muskatnuss. Doch selbst wenn der Bus sich im prallen Sonnenschein den Bartholomäumsberg hinaufschob, bugsierte sein Vibrieren mich in eine Transitzone, in der alle Bezugspunkte mir zu entschwinden drohten, so wie kurz vor einer Vollnarkose oder im Wartesaal vor einer großen Initiation.

Natürlich war das Bartholomäum, ehemals eine stolz auf ihrem Berg über der Kreisstadt thronende Klosterschule, längst eine säkularisierte Bildungs­einrichtung, und Initiationen standen nicht einmal mehr in Form von Schulgottesdiensten auf ihrem Programm. Wie der gesamte Schulkomplex in Klassenräume, in Physik-, Chemie-und Biologiesaal, in Sprachlabor und Turnhalle, war im Bartholomäum auch das Haus des Wissens penibel in Gefängniszellen unterteilt, in denen nur das Allergreifbarste untergebracht war.

In meinem Abgrenzungsbedürfnis gegen diese Art der Bildung fand ich ausgerechnet Solidarität in der Person des Klassenprimus. Gemeinsam mit Leon fühlte ich mich, zumindest im Wackenhub, hinter der Pennälerfassade als Mitglied eines Stammes urzeitlicher, nur oberflächlich zu zivilisierender Urzeitmenschen; ungefügig und lethargisch wie die Steine.

Doch Leon saß in den letzten Wochen des Schuljahrs morgens im Bus fast immer neben Évariste-Matthieu. Sie unterhielten sich, entgegen den schulischen Vereinbarungen, auf Französisch. Das Deutsch des Gastes war allzu rudimentär. Immer wieder setzte Évariste seinem Nebenmann Kopfhörer auf, um ihm aus dem Kassettenrekorder irgendwelche französischen Popsongs nahezubringen, das konnte ich im Rückspiegel über dem Fahrersitz gut verfolgen. Wenn der Motor zwischen den Gängen kurz verschnaufte, hörte ich Leon summen. In der Pause wusste er von seinem Hausgast Staunenswertes zu berichten.

Im Französischkurs, den ich ja nicht besuchte, hatte Évariste-Matthieu zur Gitarre gegriffen, doch nicht irgendwie, sondern wie ein echter Könner, und seinen Gesang damit begleitet: Chansons offenbar weltberühmter Männer, deren Namen mir alle nichts sagten. Laut Leon hielt die Stimmkunst des Gastes aus La Baule derjenigen seiner Vorbilder durchaus die Waage. Wenn Leon selber sich vor mir an diesen Liedern versuchte, klang es nicht wirklich schön. Es fehlte sowohl die Gitarre als auch die Stimmkunst.

Ich selbst erlebte Évariste-Matthieu auf dem Pausenhof in dem kleinen Pulk, der sich um ihn und Leon gebildet hatte, nah genug, um ihn mir ausführlich betrachten zu können. Ich wollte begreifen, was an ihm auf Gari so großen Eindruck machte. Ich entdeckte eine schmale, fast stachelig spitze Nase mit einem leicht gewellten Nasenrücken, unter den für einen Jugendlichen sehr buschigen Augenbrauen zwei unruhig blinkende dunkelbraune Augen und schmale Lippen mit einem Schwung nach oben, der aber sehr rasch die Richtung ändern konnte. Sein Teint war hellbraun, wie ich mir den von Südfranzosen vorstellte, und an manchen Stellen schwach gefleckt wie von Spuren einer bewältigten Krankheit. Seine Garderobe wirkte eher wie die eines Lehrers als eines Schülers – wenn es unter unseren Pädagogen modebewusste gegeben hätte. Er kam in einem dunkelbraunen Blazer mit schmalem Revers daher, darunter eine Weste statt des mir vertrauten Pullovers und mit weiten Hosen, die ihm nur bis zum Knöchel reichten; und er trug eine schwarze Schirmmütze mit einem schmalen blauen Streifen um den Saum. Er besaß überschlanke Finger, wie meine Phantasie sie Pianisten zuschrieb, und eine Eleganz in seinem ganzen Erscheinungsbild, als sei er in einem Japanladen zur Welt gekommen, zwischen schattenlosen Schiebetüren und schwebenden Wandschirmen während einer Teezeremonie. 

Im Vergleich zu ihm waren die anderen jungen Franzosen des Austauschprogammes blasse Gestalten. Als auffälligere Figuren gab es da noch einen Antoine, der seine Aussprache anhand von Goethes Faust trainierte und ständig um Rückmeldung für seine pompös deklamierten Verse bat, und einen gewissen Robert, der es als ausgesprochener Kindskopf lustig fand, in der großen Pause Knallerbsen zu zünden, assistiert und teilweise akklamiert von gesichtslosen Kumpanen, deren Namen in meinem Gedächtnis nicht haften blieben, obwohl sie ebenso wie Robert und Antoine mit uns in Dr. Bolanders Lateinunterreicht saßen. Doch Évariste-Matthieu lernte kein Latein.

Die Begegnung mit ihm ergab sich unverhofft beim Turnen. Im Gegensatz zu Leon, mit dem ich mich an den Geräten auf dem Rang des Schlechtesten abwechselte, mochte ich Leichtathletik und Mannschaftsspiele. So fand ich mich beim Volleyball mit Évariste in einem Team. Auf dem Spielfeld schien er vor allem darauf bedacht, eine gute Figur abzugeben. Wenn eine kühne, aber wenig kleidsame Verrenkung zu vollführen war, um den Ball noch aus der Luft zu angeln, dann ließ er ihn lieber ins Aus fliegen. Am Netz schien ihm die imposante Wirkung des Sprungs, zu dem er ansetzte, aus einer leichten Hocke mit geradem Torso in die Höhe schnellend und im gleichen Tempo die Arme ausstreckend, mindestens ebenso wichtig wie der Effekt, den seine Handflächen auf den Ball ausübten. Trotz der Manieriertheit waren seine Bewegungen schnell, aber das Zielen war nicht seine Stärke und sein Teamgeist gleich null. Zu Hause zerbrach ich mir lange den Kopf über dieses quälende Rätsel: Was fand ein Honigkuchenpferd wie Gari an einem Pfau wie ihm, diesem gallischen Schnösel?