Vier

Scarlett Jordans war eine korpulente Frau, wie es sie – nicht nur wegen der schokoladenbraunen Hautfarbe – im heimischen Föhrenbach nicht gab und wie sie vielleicht nur das große Amerika mit seinen riesigen Weizenfeldern hervorbrachte. Oft sah ich von der Straße aus, wie sie mit kreisenden, an Pleuelstangen erinnernden Hüften über die schmalen Gartenpfade hinter Dedunzevs Anwesen kugelte und die Stangenbohnen, den Lauch, die Tomaten, aber auch die Malven, Anemonen und Dahlien mit glucksenden oder kollernden Tönen beschallte oder gar mit Lachsalven, deren Anlass nicht zu ermitteln war. Vielleicht half ihre Stimme den Pflanzen beim Sprießen und den Blumen beim Erblühen, und vielleicht nahmen sich die Kartoffelknollen bei ihrem unterirdischen Wachstum ein Beispiel an der gewichtigen Masse, die an ihren Beeten vorbeistapfte. 

Diesmal stand nicht sie, sondern der auf seinem Moped angerollte Vermieter im Vorgarten, den Werkzeugkasten schon unter dem einen Arm und eine Ölkanne in der Hand des anderen, und begrüßte mich mit dem Ausdruck seines Ärgers. Dedunzevs Ärger galt nicht mir, sondern Ron, der ihn wieder einmal versetzt hatte. Scarlett empfing uns im ersten Stock. Mir grinste sie über beide Wangen freundlich entgegen, und gegenüber Dedunzev behalf sie sich weiter mit Gestikulieren, so als ändere meine Anwesenheit als Dolmetscher nichts an ihrem grundsätzlichen Verständigungsproblem. Sie führte uns aus der Wohnküche ins Bad und zeigte auf den Ölofen, der für Raumwärme und Warmwasser zuständig war und schon länger den Dienst verweigerte. Dedunzev kontrollierte die Füllung des Tanks, die Funktion des Absperrhahns, die Dicke der Rußschicht an der Wand der zylindrischen Brennkammer, ging am Regler sämtliche Brennstufen durch, mit immer größerer Kraftaufwendung und immer lauterem Knacken von Stufe zu Stufe, und beugte sich über die Öffnung. Doch keine noch so kleine glitzernde Öllache kroch, so wie es vorgesehen war, im Licht seiner Taschenlampe über die rußige, braunfleckige Bodenplatte.

Dedunzev zog Jacke und Weste aus, krempelte den rechten Ärmel seines Hemdes hoch, reichte mit der Hand bis fast auf den Grund der Brennkammer und begann mit Hilfe eines Stücks Draht, ruckelnd und stoßend den offensichtlich verkrusteten Zulauf von Sedimenten aus Rost und Ölschlamm zu befreien. Nach heftigem Schaben, Kratzen und Ruckeln förderte er mit einer langstieligen dreieckigen Schaufel allerhand schmieriges Gebrösel ans Tageslicht und drehte den Zulaufschalter erneut bis zum Anschlag auf. Der Boden der Brennkammer blieb trocken. Dedunzev kramte in den Tiefen seines Werkzeugkastens und zog schließlich ein schmales, korkenzieherartig verdrilltes Drahtgebilde hervor, das mich an einen Flötenreiniger erinnerte. Er umhüllte es mit dünnen Wollfäden und unternahm damit, diesmal eher wie ein Chirurg, einen zweiten Versuch. Dabei gab er Scarlett Erläuterungen, die ich, so gut ich konnte, in mein Gymnasiasten-Englisch übertrug.

Mit zufriedenem Seufzen richtete er sich schließlich wieder auf und drehte den Schalter. Der Boden der Brennkammer bedeckte sich im Lichtstrahl der Taschenlampe rasch mit einer bräunlich schillernden Ölschicht. Er warf einen brennenden Anzünder auf die breite Lache und schloss den Deckel. Die Flammen wummerten, sirrten und brausten in dem eisernen Zylinder, mal dumpfer, mal vorlauter, aber nie knisternd oder knatternd. Dank des verlässlichen Zulaufs erfüllte die altertümliche Badezimmerheizung wieder ihre Funktion.

Damit war der Grund der Mietminderung, die Ron offensichtlich beansprucht hatte, entfallen. Scarlett erhob gegen diese Logik keine Einwände und war willens, den Ausstand für den aktuellen Monat in bar zu begleichen.

Die Dose, die sie aus den Tiefen des Küchenschranks fischte, um darin nach Dollars zu suchen, entpuppte sich allerdings als leer, wahrscheinlich vorsorglich von Ron ausgeräumt. Sie musste ihren Vermieter vertrösten. Zur Entschädigung stellte sie uns einen Whiskey auf den Tisch, der in seinem luxuriösen Holzbehältnis Gutes verhieß. Sie pries ihn in Vokabeln, die mir noch fremder waren als zum Beispiel Ölzuleitungsabsperrhahn oder Leitungsdietrich, wie Dedunzev sein selbst kreiertes Werkzeug benannte. Das Quantum Whiskey, das ich in mein Glas ließ, hieß bei ihm ein Bodendecker. Ich hatte noch nicht daran genippt, als von draußen das verebbende Knattern eines VW-Motors Rons Ankunft verkündete. Noch bevor ihr Mann hereinkam, hatte Scarlett mit auffälliger Eile und ohne Erklärung Flaschen und Gläser abgeräumt.  

Ron ließ ein sonniges ‚Hi everybody!‘ in die Runde erschallen, umarmte Scarlett, reichte Dedunzev die Hand und klopfte mir auf die Schulter.

Scarlett fragte ihn mit einem Seitenblick auf den Vermieter nach fünfundsiebzig Dollar. Dedunzev ließ zur Untermauerung dieser Forderung sein Spezialwerkzeug feierlich in den Besitz der Familie Jordan übergehen und hob an, Ron in einer Mischung aus Gebärden und amerikanischen Brocken dessen Handhabung zu erklären.

„Please translate, Ansgar.“

Ich versuchte mein Bestes. Währenddessen gab Ron hinter Dedunzevs Rücken mir gegenüber den Clown. Seine Hände rotierten, so als sei er im Begriff mit unsichtbaren Bällen über seinem Kopf zu jonglieren. Anstatt wie Scarlett laut zu prusten, rollte er die dunklen Augen, die in seinem bleichen, eckigen Gesicht wie Irrlichter wirkten. Erst später ging mir auf, dass es wahrscheinlich unser von Dr. Bolander so sorgsam trainierter britischer Akzent war, über den Ron sich lustig machte. Was meine Zunge auf ihrem phonetischen Trapez vollführte, empfand er wohl als skurrile Zirkusnummer. Aber irgendwann zückte er doch die Börse und zählte mit grotesker Ausführlichkeit fünfundsiebzig Dollar auf das angeschmutzte Glas des Beistelltisches. Dedunzev drückte mir zum Abschied nicht etwa einen Greenback, sondern den Schlüssel des Arsenals in die Hand, den ich spätestens heute Abend wieder würde abliefern müssen. Ich machte mich also gleich auf den Weg.

Jeden Morgen fuhr ich im Bus an seiner Schrottburg vorbei. Sie erstreckte sich südlich des Friedhofs, von ihm durch Silos und Lagerhallen getrennt, entlang der Landstraße in die Kreisstadt und endete am Waldrand unweit des Moorsees, der im Sommer unser Badeplatz war.

Die wirkliche Natur von Dedunzevs Aufgaben auf dem ausgedehnten Gelände blieb mir undurchsichtig. In meinen Augen hielt er es in der Schwebe zwischen Abenteuerspielplatz und Recyclinghof. Allenfalls lotste er ab und zu einen Transporter, der Alteisen anlieferte, an die richtige Stelle und half dem Fahrer beim Entladen. Die PKWs parkten meist diesseits der Schranke, die sich tagsüber immer in der Vertikalen befand. Deren Fahrer luden auch gar nichts ab, sondern schienen Dedunzev in dem Container, in dem sein Quasi-Büro untergebracht war, lediglich einen Besuch abzustatten. Es beherbergte leere Regale, drei Stühle und einen Tisch mit einer Schreibmaschine, an deren Stelle ebenso gut eine Attrappe hätten dastehen können, und einem Telefon, das tatsächlich hin und wieder klingelte. 

Hinter dem Container verbarg ein Spalier niedriger Nadelbäume einen ehemals grün gestrichenen Bauwagen. In ihm befand sich das sogenannte Arsenal, die Schatzkammer der Schrottburg. Als bewährten Lohn für meine Dienstleistung gewährte mir der immer nur kurzfristig ausgeliehene Schlüssel Zugriff auf die dort gehortete Army-Kost: Corned Beef, Canned Chicken, Canned Beans, Kekse, Kommissbrot, Knäckebrot, Gewürzbrot.

Diesmal ließ ich die dunkelgrünen Dosen und hellbraunen Päckchen unberührt, sondern tastete sorgfältig die Ritzen und versteckteren Fugen an Boden und Wänden des Containers ab. Schon lange war ich neugierig auf das, was sich im hinteren Teil des Raumes befand, der durch ein mit Vorhängeschloss gesichertes, bewegliches Eisengitter abgetrennt war. Irgendwo in der Nähe musste auch dessen Schlüssel versteckt sein. Nach nicht allzu langer Suche wurde ich hinter einer losen Latte fündig.

Im Dämmerlicht hingen vor mannshohen Regalen speckige, karierte Wachstücher. Die vorderen verbargen Kautabak in Rollen, Zigaretten in weiß verpacken Stangen und Kästen mit amerikanischem Bier. Die hinteren enthielten wie die eines gut geführten Warenlagers sorgsam aufgeschichtete weiße und dunkelbraune Kartons. Ein weißer Karton in der oberen Reihe war angebrochen und ließ den Inhalt erkennen: Whiskeyflaschen eben jener Marke, die uns Scarlett zum Abschied serviert hatte, nur ohne die luxuriöse Umhüllung. Die dunkelbraunen Kartons waren durch schwarze Längs- und Querbanderolen gesichert, mit Ausnahme eines einzigen, der ebenfalls angebrochen war. Er enthielt einen Packen von Hochglanzmagazinen, alle mit demselben Umschlag und demselben Inhalt.

Der Umschlag zeigte in dunkelrotem Rahmen Fotos nackter Körper, die zu zweit oder in regelrechten Rudeln ihre erregten Geschlechtsteile ineinander verkeilten. Diesem Programm folgte auch der Inhalt des Heftes. Über manchen der in pralle Helligkeit getauchten Paare schwebten wie in Comics Sprechblasen, in denen die Erregung der Akteure sich in Ausdrücken Luft machte, die Dr. Bolanders Unterricht uns noch nicht vermittelt hatte. Vermutlich war das die Ware, mit der Dedunzev seinen Schrottplatz am Leben erhielt. Ihretwegen empfing er in seinem Büro Besucher, die kein Altmetall ablieferten und kein Autowrack anmeldeten, das abzuholen war.

Bevor ich das Lagerabteil wieder abschloss, stach mir in einer Ecke neben dem hintersten Regal ein metallisches Glänzen ins Auge. Zwei Gewehrläufe ragten dort aus einem grauen Öltuch. Als ich das Tuch zurückschlug, entdeckte ich nicht etwa richtige Army-Rifles, sondern lediglich zwei Luftgewehre; ein halb verrostetes, dessen Verriegelung sich nicht mehr öffnen ließ, und ein funktionstüchtiges mit einem fest verbauten Zielfernrohr samt mehreren Schachteln Diabolo-Patronen.

Wozu Dedunzev es wohl benutzte? Ging er damit etwa nächtlich auf Patrouille durch das Gelände, so wie ich es jetzt tat?

Der hintere Teil des Geländes war weitgehend von Gesträuch und Gestrüpp überwuchert. Nur vereinzelt erinnerten verrottende Möbel und verbeulte Kanister an seine Bestimmung. Ganz am Rand, hinter einer ausgedehnten Brennesselzone, stand auf rostbraunen Felgen ein mittelgroßer, kupferroter und trotz seines abgewrackten Zustands von Dedunzev fast wie ein Oldtimer gepflegter Setra-Omnibus, dessen ovale Formen an die eines Flugzeugrumpfs erinnerten. Auf der Frontseite flankierten dieses einmal futuristisch gemeinte Relikt zwei Feuerstellen: ein großer Steinkreis, in dem Dedunzev brennbaren Ausschuss abfackelte, und ein improvisierter Grill. Dieser bestand aus einem alten, auf das Fahrgestell eines Einkaufswagens montierten Kohlenkasten, über den er einen Backofeneinsatz als Rost gelegt hatte. Drei übermannshohe Türme aus alten Autoreifen, die sich in ihrer Schiefe notdürftig gegenseitig abstützten, bildeten, wohl als Windschutz gedacht, den Ansatz einer Pergola aus schwarzem Gummi.

Hinter dem Lenkrad des Buses fühlte ich mich inmitten all der geschwungenen Linien und Flächen wie im Cockpit eines der Transportflugzeuge, in denen mein Vater früher als Copilot saß. Im roten Pilotensessel war auch ich jetzt Herr über einen Gangschaltungsknüppel und ein Paneel voller altertümlicher Schalter inmitten ausladender Armaturen. Nicht alle Schalter blieben bei Betätigung wirkungslos. Die Sprühdüsen zum Beispiel taten immer noch ihren Dienst und schossen auf Knopfdruck klares Wasser auf die Scheibe. Ich setzte sie in Gang und bewegte das Lenkrad annähernd in dem Rhythmus der hin und her schwingenden Scheibenwischer.

Mit dem Luftgewehr im Anschlag steckte ich den Kopf auf dem Seitenfenster, bereit, auf jeden Eindringling zu schießen. Ich sah mich allerdings im Rückspiegel und kam nicht umhin zu erkennen, dass ich hier selber der Eindringling war. Als ich das Gelände verließ, legte ich das Gewehr nicht mehr an seinen Platz zurück, sondern steckte es, den Lauf zuunterst, als Leihgabe in meinen Rucksack.