Drei

Ich versuchte als kleiner Junge, wenn mir in der Grundschule langweilig war, immer wieder einmal, aus Hellas Augen zu schauen. Dazu versetzte ich mich im Geist zwischen die Eibenreihen an ihrem Grab, steckte die roten Früchte in den Mund und kaute beharrlich darauf herum. Wenn der Lehrer mich aufforderte, auszuspucken, was ich im Mund hatte, war ich selbst überrascht, dass es nur Luft und Leere war. Vielleicht war es dieses Bild der zerkauten roten Eibenfrüchte, das mich hellhörig machte für Leons Berichte über seine Erfahrungen mit Muskatnuss. Sie mache den Augen Feuer unter dem Hintern, so hatte er sich ausgedrückt. Auch wenn er mir unverständlich blieb, hatte dieser Satz sich mir eingeprägt.

Meine Mutter verwendete dieses harmlose Gewürz, für meinen Geschmack zu reichlich, ebenso in ihren dünnen Graupensuppen wie in ihren schweren Eintöpfen. Generell war ihre Küche mir zu pikant. Aber ich hatte längst aufgegeben, mich zu beschweren. Vielleicht war der Angriff auf meine Papillen ein abgeschwächter Ausdruck ihres unterschwelligen Widerwillens gegen meine Anwesenheit in ihrem Haushalt. Aber zum Induzieren auch nur im Entferntesten psychedelisch anmutender oder gar hellsichtiger Bewusstseinszustände reichte er natürlich nicht aus.

Bei meinem zweiten Anlauf in diese Richtung verließ ich mich jedenfalls nicht auf die bescheidenen Bestände des Gewürzregals, sondern zerschabte eine komplette Nuss aus eigenem, eigens angeschafften Vorrat geduldig zu staubfeinem Pulver, mischte es mit einem großen Glas Limonade und benötigte immer noch eine halbe Stunde, bis dieses Glas ohne zu starken Brechreiz geleert war. 

Ich ging nach oben in meine neue Bleibe, pinnte die Moltonvorhänge unter den Dachschrägen an die Wand, zündete zwei Kerzen an, eine auf dem Nacht-, die andere auf dem Schreibtisch, streckte mich auf dem Bett aus und starrte gegen die Decke, wo der schwarze Umriss meiner Stifte in ihrem Holzbecher einen nervösen Flackertanz vollführte. Eine ziemlich lange Zeit lag ich so reglos da in Erwartung jenes Feuers, das Leon mir unter dem Hintern der Augen angekündigt hatte.

Mit der Langeweile wuchs meine Unrast, denn ich wurde nicht müde. Ich stand auf und versuchte mich im Kampf gegen die Schlaffheit in den gleichen flackernden, zuckenden Bewegungen, wie sie die Schatten an der Decke und an den schrägen Wänden vollführten. Bald stiegen Hitzewellen auf, die nicht von der körperlichen Anstrengung rührten. Eigentlich schwappten sie aus dem Außenraum in mich hinein, zunächst als Ströme, dann als gravitätisch pulsende Felder. Wenn ich die Augen schloss, entwickelten diese Felder ein schwach phosphores-zierendes Leuchten, bläulich, rötlich, gelb und grün. Ich riss die Augen wieder auf, weil ich gegen den Tisch stieß. Schwindel ergriff mich, denn die Wände begannen, wenn auch in sehr langsamem Tempo, um mich zu kreisen. Ich ließ mich aufs Bett fallen, um den Taumel zu stoppen, und überließ dafür den Körper den leuchtenden Hitzewellen, die darin pulsierten. Als letztes erreichten sie die Augenlider. Zunge und Rachen brannten. Ich drehte mich auf den Bauch, bis der Wunsch nach Kühlung unwiderstehlich wurde. Auf der Toilette hängte ich mich unter den Wasserhahn. Aufs Bett kehrte ich nicht mehr zurück, sondern setzte mich in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl.

Immer noch brannten die beiden bordeauxroten Tafelkerzen, aber im Spiel der flackernden Schatten an Decke und Wänden hatte deren Schein sich auf seltsame Weise um zusätzliche, mir nicht ortbare Lichtquellen vermehrt. Dann geschah das Seltsamste inmitten all der Seltsamkeiten: Nicht aus meinem Hirn, sondern aus diesen Wänden und diesen Dachschrägen, unter denen einmal ein Laufstall und ein Kinderbett gestanden hatten, drang zum ersten Mal die Erinnerung an Nächte, in denen es zwischen meinen Eltern so schrecklichen Streit gab, dass das Geschrei durch die Decke zu mir hinaufdrang; vielleicht sogar das Schlagen der Tür, als Oswien das Haus verließ, um für mehrere Tage nicht zurückzukehren.

In der Erinnerung der Wände und Dachschrägen stand der Körper Anne-Marie Claras damals in Flammen, als sie allein an das Kinderbett kam. Sie loderten aus ihr heraus und schlugen meinen Schatten so heftig an die Wand, dass er daran zerbrach. Er zersplitterte wie eine Glasscheibe in zahlreiche Scherben; diese Scherben blieben nicht etwa reglos am Boden liegen, sondern setzten zum Gegenangriff an. Wie ein Schwarm aufgebrachter Vögel hackten sie auf Anne-Marie Clara ein. Sie schnitten ihr in die Hände, den Nacken, den Hals und ins Gesicht. Meine Mutter nahm diese Schnitte offenbar genauso wenig wahr wie zuvor die Flammen, die aus ihrem Körper geschlagen waren. Der ganze Vorgang war meinem willentlichen Einfluss entzogen. Und dennoch war es mein Schatten, der ihr diese Schnitte zufügte.

Einen Augenblick lang versuchte ich, von Trotz und Übermut ergriffen, die tanzenden dunklen Flächen, die die Kerzenflammen an die Wände warfen, zu Wurfmessern zu formen und gegen die geraden und schrägen Wände zu schleudern, die diese Erinnerung gebaren, und erschrak, als sich die Klingen bis zum Heft in die Tapete bohrten. Oder gehörte das Bild des Blutes, das in schwarzen Tropfen an ihnen heruntertroff, bereits zu denen des Alptraums, der in jener Nacht meinen Schlaf unterbrach?