Eins

Im Frühsommer des Jahres, in dem für den Bau der Autobahn der halbe Rohdenberg abgetragen wurde, legte Annemarie-Clara oder AMC, wie mein Tagebuch den langen Namen meiner Mutter dreisilbig verkürzte, sich eine neue Garderobe zu: ein blassblaues Kostüm, so enganliegend, wie sie noch nie eines getragen hatte, elegante Hüte, in ihrem dezenten Beige passend zum Dunkelgrau des neuen Sommermantels, und einen schwarzen Hosenanzug. Immer häufiger verlangte ein gewisser Herr Bärscheid sie am Telefon zu sprechen, und immer häufiger verbrachte sie Abende und später auch ganze Wochenenden mit diesem neuen Bürokollegen in der Stadt. Ich genoss die Freiheit, die ihre häufige Abwesenheit mir gewährte, erfüllte aber auch widerspruchslos die dadurch für mich vermehrt anfallenden Pflichten in Haus und Garten. Ohne mich wären in jenem Sommer auf Hellas Grab die Begonien und Fuchsien verdurstet. 

Die Kindergräber auf dem Föhrenbacher Friedhof lagen neben dem quadratisch ummauerten Wasserhahn mit seiner Gießkannenbatterie zwischen zwei Eibenreihen. Es war mir tröstlich, zu sehen, dass Hella nah an einem der Bäume lag. Jedes Frühjahr reichten die Zweige ihr rundliche, rote, für sie in ihrem Zustand gefahrlos zu genießende Bonbons. In meiner Vorstellung hatte der Körper meiner älteren Schwester in dem kleinen, wahrscheinlich weißen Sarg die Form einer Null angenommen, bevor er sich in opalisierendes, durch lässliche Sünden, wie sie auch schon ein kleines Kind begehen kann, leicht eingetrübtes Licht auflöste, das dann seiner Wege ging, auf denen kein Lebender ihm folgen konnte.

Zwischen den Zierblumen und der Silbertanne zog sich ein schmales Band aus kleinen Steinen schräg über ihr Grab wie ein mineralisches Collier. Die Steine lagen mit der Schauseite, aus der Kristalle oder bunte Einschlüsse blinkten, nach unten, weil Hella und nicht die Friedhofsbesucher in den Genuss ihrer Schönheit kommen sollten. Ich tauschte die Steine häufig aus, nach Farbe, Form und Textur. Sie wanderten aus meiner kleinen Sammlung auf das Grab, blieben dort eine Weile auf wechselnden Plätzen und wanderten irgendwann wieder in meine Sammlung zurück. Wenn ich keine passenden neuen fand, verwendete ich besonders geeignete Exemplare auch mehrmals. Aber eigentlich schienen mir sämtliche Mineralien geeigneter als Geranien, Fuchsien und Begonien, die AMC mit Vorliebe pflanzte, mit ihren selbstbezogenen Ansprüchen auf Versorgung, Vermehrung und Bewunderung, die offenbar schon im Pflanzenreich einsetzen.

AMCs häufige Aufenthalte in der Stadt gaben mir vor allem Gelegenheit, hinter ihrem Rücken meinen geplanten Umzug innerhalb des Hauses in aller Ruhe vorzubereiten. Auf meine Bitte hätte sie mir wahrscheinlich nicht erlaubt, das gesamte Dachgeschoss für mich allein in Anspruch zu nehmen. Nur einen kleinen Bereich nutzte sie selber als Nähzimmer; den weit größeren Teil als Rumpelkammer und Stauraum, vermutlich auch zur Entsorgung aller unliebsamen Erinnerungsstücke aus der Welt meines Vaters, der uns vor zehn Jahren verlassen hatte.

Als AMC Ende Juni über ein langes Wochenende zu einer mir gegenüber als ‚Betriebsausflug‘ deklarierten Reise ins Elsass aufbrach, schritt ich zur Tat. Alleine schleppte ich Bettgestell, Regalbretter, Schreibtischplatte und die Kisten meiner Bücher und meiner Steinsammlung über die schmale Treppe nach oben.

Den Kleiderschrank hatte ich bereits zuvor zerlegt, konnte ihn allerdings nur mit erheblicher Mühe am neuen Standort wieder zusammenfügen. Die Nähmaschine, die überzähligen Stühle und ein Beistelltischchen schob ich so weit wie möglich in die toten Winkel unter den Schrägen, stellte den Schreibtisch unter das größte Fenster und holte nun auch die Kleider aus meiner Kammer. Als alles fürs erste bewältigt war, legte ich mich zwischen den nicht ausgepackten Kisten und den an der Wand lehnenden Regalbrettern aufs Bett und wartete. Zuerst hatte ich Leon um Hilfe gefragt, doch der hatte keine Bohrmaschine und sein Vater gab seine Werkzeuge nicht aus dem Haus.

Wer dann endlich klingelte, war Dedunzev. Als wir gemeinsam die Treppe hochstiegen, roch ich bereits in seinem Atem den Biergeruch. Ich zeigte ihm die Eisenwinkel an den Regalpfosten und in der Wand die acht Markierungen für die Dübel. Seiner Ansicht nach waren das sechs zu viel. Ich bestand auf den acht, denn ich wollte ja im Dachzimmer nicht nur das Bücherregal, sondern vor allem mich selbst so fest verankern, dass meine Mutter gar nicht auf den Gedanken käme, mich hier oben wieder auszuquartieren. 

Der Besucher setzte sich schwer und breit in seiner braunen Joppe auf den schmalen Stuhl, den ich ihm anbot, und schaute sich in unserem unaufgeräumten Dachgeschoss um. An den hinteren Wänden hingen unter Oswiens Offiziersfoto, das ich gegen AMCs Einspruch dort angebrachte hatte, die Plakate von Flugschauen. Blinkende Kampfjets in enger Formation vollführten im Azurblau ihre Manöver, im nächsten Augenblick vielleicht schon zu Feuerbällen zerstoben, die die Kamera nicht mehr eingefangen hatte. Die Türen des Einbauschranks bedeckten komplizierte Schaltpläne, die mit der Steuerung und Wartung solcher Jets in Verbindung standen. Daneben schnürte ein Rudel Wölfe die Wand entlang, rahmenlos eingefügt in das groß karierte Muster der Tapeten. Dedunzev erbat sich etwas zu trinken. Ich brachte aus dem Keller zwei Flaschen Helles und aus der Küche zwei Gläser. Einen Öffner hatte er bereits auf das Tischchen gelegt, um das wir saßen. 

Seine ledrige Gesichtshaut war auf der Stirn tief zerfurcht; auf der Nase erinnerte sie an das Relief einer Avocado, und über den im Verhältnis dazu erstaunlich glatten Wangen war sie rot geädert. Sein verschwommener Blick schien mich zu durchqueren, wie auf der Suche nach seinem eigentlichen Ziel in einem fernen Hintergrund. Im Raum überlagerte der Biergeruch jetzt den von Knoblauch, Räucherspeck und Altmetall. Dedunzev seufzte wohlig zwischen den kleinen Schlucken, die er so ausführlich im Mundraum verteilte, als wolle er seine seitlichen Zahnlücken damit ausspülen. Dazwischen leckte er sich genüsslich den Schaum von den Lippen.

Mir blieb nur die Aufgabe, den Bohrstaub zu beseitigen, als er dann mit der Unbeirrbarkeit einer Maschine in Aktion trat. Das Anschrauben der Winkel ging ihm genau so rasch von der Hand wie zuvor das Setzen der Dübel. Als der Rahmen stand, die Seitenteile und die beiden Bretter für das unterste und das oberste Gefach befestigt waren, machte er die zweite Flasche auf und füllte diesmal auch mein Glas.

Er prostete erst mir zu, dann dem Foto meines Vaters; und zwar mit einem schwach angedeuteten militärischen Gruß. Er war mindestens zehn Jahre älter als Oswien und musste ihn gekannt haben, zumindest so gut, wie alle hier in Föhrenbach sich kannten, und vielleicht noch etwas besser. Dedunzev war als Herr des Schrottplatzes so etwas wie eine öffentliche Figur, der Bewahrer ausrangierter Gerätschaften und ausgedienter Fahrzeuge. Dedunzev liebte das Gerümpel als Gerümpel und zählte sich vielleicht selber dazu.

Ob ich etwas von meinem Vater gehört habe? Ich musste die beiläufig vorgebrachte Frage verneinen. Es war nicht Weihnachten, es war nicht Geburtstag, ich hatte auch nicht gerade das Abitur bestanden, und Texas war weit weg.

Beim Thema Amerika beklagte Dedunzev sich wieder einmal über seine Mieter. Mit Scarlett kam er gut aus, aber mit Ron Jordans auch nur eine Verabredung zu treffen, geschweige denn Mietstreitigkeiten zu klären, war stets mühsam. Ohne Mitwirkung eines Dolmetschers war es ihm schier unmöglich. Er brauchte also wieder einmal seinerseits meine Hilfe. Er würde mich anrufen, wenn der Termin mit Ron wirklich feststand.

Nachdem er gegangen war, räumte ich nicht gleich meine Bücher und Steine ein, sondern stellte mich ganz nah vor Oswiens Foto an der Wand. Geduldig wie das Gesicht eines neuen Nachbarn fixierte ich das Konterfei dieses herrisch wirkenden Mannes in Uniform, der sichtlich bemüht war, von oben herab auf den Fotografen und damit auf den Betrachter zu blicken. Kein Lächeln ließ um die Mundwinkel Grübchen entstehen. Aus den verkniffenen Lippen über dem wuchtigen Bogen des Kinns mit seinem hellbraunen Dreitages¬bart war eher ein Kommando als ein Gruß zu erwarten. Die Augen blickten streng, als inspizierten sie die Habt-acht-Stellung eines neuen Rekruten, zum Verzeihen von Laxheit nicht gewillt. War ich als Erstklässler zu lax gewesen, hatte er uns auch deswegen im Stich gelassen?

Noch einmal durchforstete ich, diesmal genauer als je zuvor, den breiten Wandschrank. An Drahtbügeln hingen immer noch alte Mäntel, Uniformhosen und zerschlissene Jacken. In den Schubladen muffelten vergilbte Akten aus dunkelgrünen Mappen. Das oberste, die ganze Front umfassende Gefach des Wandschranks, für mich nur erreichbar, wenn ich mich auf einen Stuhl stellte, war verschlossen und der Schlüssel nicht auffindbar. Auch AMC behauptete, ihn nicht zu besitzen. Oswien habe ihn vermutlich mitgenommen. Wenn es sie überhaupt anderswo gab als in meiner Phantasie, dann würde die Pistole, deren Besitz ich meinem Vater zwingend zuschrieb, dort liegen. In meinen Augen bildete sie seine Hinterlassenschaft an mich, anzutreten an jenem Tag, an dem ich Manns genug sein würde, sie in Besitz zu nehmen. Aber wahrscheinlich lagerte hinter dieser Schranktür einfach nur geballte Gleichgültigkeit. Ein Tornister voller Indifferenz und Desinteresse, den ich mir am besten selber auf den Rücken schnallen sollte.

Als AMC wie angekündigt am Dienstagabend zurückkehrte, rückte ich nicht gleich mit der Sprache heraus. Sie wirkte beim Hantieren in der Küche fahrig und nervös und als wir uns beim Abendbrot gegenübersaßen, warf sie die Worte über das Klein-Venedig der Straßburger Altstadt wie Füllmaterial in einen dunklen Schacht. Der Schacht war mein beharrliches Schweigen. Ach ja, sagte sie nur auf meine Eröffnung, dass ich in der Zwischenzeit in das Dachzimmer umgezogen sei. Sie schaute mich kurz an und dann wieder schräg an mir vorbei, wie sie es häufig tat.

„Dort oben hast du keine Vorhänge.“

„Doch. Molton.“

„Wie willst du das aufhängen?“

„Gar nicht. Ich nehme Nadeln.“

„Im Winter machst du dich krank da oben.“

„Es gibt den Radiator. Außerdem bin ich ein Eskimo.“

„Ja. Dich bringt nichts um.“ 

Vermutlich zu Unrecht, aber dennoch unabweisbar hörte ich auch aus diesen Worten wie aus vielen anderen Äußerungen meiner Mutter einen versteckten Vorwurf. War ich etwa zu robust, zu unempfindlich, zu gesund?

Meine Schwester Hella war, noch nicht ganz fünf Jahre alt, kurz vor meiner Geburt gestorben, so als sei meine nahende Ankunft es gewesen, die sie aus der Welt geschubst habe. Hatte meine robuste Gesundheit derjenigen Hellas den Teil weggenommen, den sie zum Überleben brauchte? Hatte ich auf einer gemeinsamen Geschwisterschicksalswaage meine eigene Schale ungebührlich belastet und die ihre unkontrollierbar in die Höhe schnellen lassen? Legte ich vielleicht auch deswegen Steine auf ihr Grab, um die Waagschale ihres Schicksals nicht ungebremst noch weiter in die Höhe schnellen zu lassen, bis hinauf in die Sterne?