Point of no Return

Hier ist nur noch wenig los. Bart setzt sich genau dorthin, wo er mit Christoph beim ersten Mal gesessen ist, unter den ausgestreckten Arm einer leicht bekleideten Göttin mit Kugellampe. Schummrig und heruntergekommen alles. Die Polster der Sitzbänke zerrissen, man sinkt ein bis auf die Bretter. Der wuchernde Deckenstuck weit oben in der Höhe tropft vom Nikotin der Jahrzehnte, die staubigen Spiegelflächen spiegeln das Treibgut des Abends, ein paar traurige Alkoholiker, Drogis, schwule Rentner, Balkan-Stricher mit Zahnlücken und tiefen Augenringen. Bart kann auf einmal verstehen, warum Sevi den Laden nicht mag.
   „Was ist denn heute?“, fragt Bart.
   „Ja, was ist denn heute?“, fragt Sevi zurück.
   „Ein Kampf der Prinzipien, merkst du das?“
Wieder lächelt Sevi sein Lächeln, das direkt an Barts Seele vorbeilächelt.
   „Kannst du nicht klar und direkt sein?“, bricht es aus Bart heraus, „musst du immer die Salondame heraushängen lassen?“
   Mit dem Wort Salondame hat er Sevi den gröbsten Prügel übergezogen, der ihm verfügbar scheint. Im selben Augenblick tut es ihm leid.
   Sevi bleibt relativ unbeeindruckt. „Vielleicht gehört die Salondame ja einfach zu mir“, sagt er schlicht.
   Bart sieht ihn an. Ja, das könnte sein. Vielleicht gehört die Salondame einfach zu ihm. Sevi ist eine Tunte und steht dazu. Das ist queer gedacht. Vielleicht zeugt es ja von seiner ganz speziellen Form von Mut, sich irgendwann einmal diese Grand-Dame-Manier zugelegt und so gegen hergebrachte Normen und Männlichkeitsideale aufbegehrt zu haben. Vielleicht hat ja er, Bart, selbst ein Problem, indem er Schwulsein zur reinen Männersache erklärt und in einer Art von schwulem Reinheitsgebot allem Weiblichen den Einlass verwehrt. Auch das könnte sein. Aber ist denn die Zuflucht zu Frauenklischees wirklich queer? Und auf einmal scheint ihm Sevi ein viel schlichteres Wesen, als er angenommen hat. Vielleicht gehört die Salondame einfach zu mir. Könnte das nicht ebenso gut die Einleitung zum freimütigsten aller Eingeständnisse sein? Zum Eingeständnis seiner Unfähigkeit, sich direkt und unverstellt zu zeigen, oder zum Eingeständnis des naiven Wunsches, sich von der Welt um sich herum bewundern zu lassen? Ja, es stimmt, könnte er sagen, ich weiß nicht, wie ich es dir recht machen soll, und dann flüchte ich mich in irgendwas, wahrscheinlich bin ich leer, wahrscheinlich bin ich banal … Und in diesem Augenblick wäre Sevi schon durch das Tal der Leere und Banalität hindurch. Aber er sagt es nicht. Er sagt nichts. Was tu ich nur, denkt Bart. Was tu ich nur, ich muss doch auf ihn aufpassen. Das Salondamenlächeln steht immer noch in Sevis Gesicht. Er ist eben nichts als ein glatter, blasierter Kotzbrocken, denkt Bart mit neuer Rabiatheit, zu eitel, um irgendwas auf dieser Welt mitzukriegen. Scheiß Individualisten. Zuckerwarenverkäufer. Besonderlinge. André Hellers. Er kippt den Rest seines Glases hinunter und hält es Richtung Kellner in die Höhe. Hast du ein Herz Sevi, oder bist du leer? Wenn du ein Herz hast, dann zeig es. Jetzt, sofort. Bart sieht ihn an und wartet. Trauer überkommt ihn.
   „Du bist so schön, Sevi“, sagt er leise. Er will etwas Wahrhaftiges sagen und weiß längst nicht mehr, ob es noch wahrhaftig ist.
   Sevi lächelt bloß. Auch nicht mehr ganz nüchtern, man kann es sehen.
   Scheiße, nun muss doch was von dir kommen, Severin! Warum sagst du nichts? Du kannst doch jetzt nicht nichts sagen! Verstehst du nicht, dass ich mich gerade von dir verabschiede? Dass wir unmittelbar vor dem Point of no Return stehen? Du hast es in der Hand! Du kannst das Rad zurückdrehen, du allein. Noch sind keine unwiderruflichen Sätze gefallen, noch sind die Würfel in der Luft. Sag einfach: Weißt du, ich kann schon manchmal ein eitles Arschloch sein, oder einfach nur: Ich hab dich lieb. Irgendwas. Vielleicht bloß eine Berührung, ein Blick, es gibt so viele Möglichkeiten.
   Sevi schweigt.
   Tränen steigen Bart in die Augen. „Warum kannst du mir nicht nahe sein, verdammt?“, ruft er. „Warum nicht wenigstens ein bisschen? Du weißt, ich kann keinen Zentimeter abrücken, keinen Zentimeter.“
   „Abrücken wovon?“, fragt Sevi.
   „Von meiner Forderung. Meiner Forderung an dich!“
   Bart bricht in Tränen aus. Der Suff, die aufsteigende Erkältung, seine Müdigkeit verbinden sich zu einer mächtigen Gefühlswelle, die nun über ihm zusammenschwappt. Er heult wie ein Schlosshund. Schön sind sie gewesen, diese drei Tage, so erfüllt wie lange keine Tage davor, und nun ist klar, dass es nur drei Tage waren. Sevi und er werden nicht in die Verlängerung gehen.
   „Ich kann keinen Zentimeter davon abrücken, keinen Zentimeter, sonst werde ich krank und sterbe.“ Vor Heulen kann Bart kaum sprechen. Er stützt sein Gesicht in die Hände und Tränen tropfen auf den verklebten Marmortisch.
   Unverständnis in Sevis Augen.
   „Was ist denn, Sevi, verdammt?“, jammert Bart „Was ist denn los mit dir? Was denkst du? Was sind deine Gefühle? Sag’s mir!“
   „Ich weiß es nicht“, sagt Sevi. „Ich muss erst nachdenken, dann habe ich eine Meinung.“
   „Aber du brauchst keine Meinung! Du brauchst nicht nachzudenken, du weißt längst alles. Schau mir ins Gesicht! Zwei Männer, verstehst du? Du und ich! Freundschaft. Geradheit. Nicht ein Mann und das, was Männer seit tausend Jahren aus Frauen machen. Keine Spielchen. Keine Zickigkeiten. Bitte. Sag lustige Sachen. Meld dich zum Kampfsport an, meinetwegen geh in eine Rülpsschule, nur sei kein … Kulturbeutel. Bitte. Wenn wir zusammen sein wollen, auch nur irgendwie zusammen sein, dann musst du davon abgehen.“
   „Wovon denn abgehen?“
   „Von diesen … Formen. Entschuldige, Sevi. Entschuldige, dass ich dir Vorwürfe mache. Vorwürfe sind das Schlimmste, sie zerstören alles. Mir ist klar, es ist nicht einfach für dich. Ich sage das nur, weil wir so wenig Zeit haben.“
   Da ist es wieder, trotz aller Entschuldigungen, das Bedürfnis, Sevis Gehirn herauszunehmen, es zu waschen und blitzblank und nach seinen Vorstellungen umgebaut wieder an seinen Platz zurückzustecken. Bart weiß es doch, er weiß doch, dass Sevi nichts erklärt bekommen möchte, dass er sich gegen seine Umerziehungsversuche mit Händen und Füßen wehren wird, sich längst schon wehrt, dass er wie jeder Mensch selbst herausfinden muss, wie er es machen will auf dieser blauen Murmel. Bart ist verzweifelt. Ich bin selber ein Arschloch, denkt er, ein unverbesserliches, beschränktes, eitles Arschloch, das seine Ansichten für die einzig wahren hält. Ich kann nicht auf ihn aufpassen. Ich kann auf niemanden aufpassen, schon gar nicht auf mich selbst. Brüll doch los, Sevi! Lang mir eine! Wehr dich gegen mich!
   Sevi aber lächelt auf seine konventionelle Art. Er weiß nicht, was er tun soll. Die Situation überfordert ihn, man sieht es deutlich, er ist sich über nichts mehr sicher. Noch immer hätte er alle Möglichkeiten, noch immer drehen sich die Würfel auf ihrem Weg nach unten durch den freien Raum. Das Einfachste wäre, den besoffenen Bart am Arm zu fassen und zu sagen: Komm, wir gehen nach Hause. Bart wäre zufrieden. Doch Sevi bleibt stumm. Nach all den Vorwürfen ist ihm der Mund verschlossen.
   Bart heult und trinkt. Das ganze Café schaut zu ihnen herüber. Egal, hier in Wien ist alles egal, denkt er. Schau ihn an. Schau, wie er schaut. Wie konnte ich nur auf so einen Idioten reinfallen! Er kann nicht. Er kann nicht aus seiner Haut. Gut, dann eben nicht. Dann bleibst du eben, wie du bist. Irgendwann findest du schon einen, der drauf reinfällt. Dann bleibst du eben in deiner idiotischen Schutzhaltung, mit der du irgendwann mal deine ach so empfindliche Seele unempfindlich gemacht hast. Dann ist dein Dasein eben nichts als eine Aneinanderreihung netter Szenchen und halb geglückter Posen. Viel Spaß beim Leben als Attrappe. Ist doch nicht das erste Mal, dass jemand zurückbleibt! Und auf einmal steigt in dem besoffenen Bart ein Gefühl auf, das nichts mehr mit Sevi zu tun hat. Es ist so seltsam intensiv, dass es ihn erschreckt. Etwas löst sich von ihm ab. Zuerst weiß er nicht, was es ist: Es ist sein Blick. Er kann sehen, tatsächlich sehen. Er sieht Sevi vor sich sitzen und sieht sich selbst. Wie von oben schaut er auf sein Innenleben, das nur ihm gehört und keinem anderen wirklich mitteilbar ist. Es sieht aus wie ein kleiner Baukasten. Und er schaut auf das Außenleben, das allen gehört: ein größerer Baukasten mit den gleichen Steinen. In Sevis Innenleben sieht er nicht, niemand kann ins Innere eines anderen schauen, so ist es nun mal, ein Baukasten mit einem Deckel drauf, aber man kann sich an den Fingern abzählen, dass er ebenfalls die gleiche Art Steine enthält.
   „Bart“, sagt Sevi auf einmal, und seine Stimme klingt erschöpft, „du bist ein Terrorist. Du terrorisierst mich und eigentlich die ganze Welt. Du kannst es nicht ertragen, wenn jemand etwas anderes schön findet als du.“
   Bart sieht ihn an. Ja, das kann sein.
   Ihre Augen ruhen ineinander. Ein Moment der Wahrhaftigkeit, eine Sekunde des Ernstes, und dann bildet sich, wie im Automatismus, wie unter Zwang, als Wirkung einer gänzlich außerhalb von Barts Gesichtskreis liegenden Ursache das alte, leicht herablassende Salondamenlächeln in Sevis Gesicht.
   „Sollen wir Sex auf dem Klo haben?“, fragt Bart. „Ich fahre morgen.“
   „Ich hatte noch nie Sex auf dem Klo“, sagt Sevi.
   Bart lacht. „Ich schon.“
   „Zu Hause haben wir es bequemer“, sagt Sevi.
   „Klar, zu Hause ist es bequemer.“
   Ich kann sehen, denkt Bart. Egal, ob mir gefällt, was ich sehe oder nicht. Das ist mehr wert als alles andere. Ich bin ein sehender Terrorist.
   Und auf einmal spürt er, dass ihm das genügt. Spürt, dass er glücklich ist.
   Wahrscheinlich ist genau in diesem Moment der letzte Würfel auf dem Boden aufgekommen.
   „Du bist wirklich wunderschön, Sevi“, sagt er und wieder füllen seine Augen sich mit Tränen.
   Mehr ist nicht zu sagen.
   Und das ist es schon fast, was zu erzählen war.