Altlast

Beim Warten auf die Straßenbahn trafen sie auf einen Gruftie. Auffallende Erscheinung, groß, hübsch, sexy, noch ein halbes Kind, vielleicht neunzehn, angetrunken, mit dicker Adler-Gürtelschließe, langem schwarzem Mantel und eng um die Stirn gebundener Bandana. Das heißt, der Gruftie traf auf sie: Als er an ihnen vorüberging, fing er Barts Blick auf, kehrte um und fragte in breitem Meidlingerisch, ob sie wüssten, wie spät es ist.
   Bart fragte, was für ein Ding das sei, das er über der Schulter hängen habe.
   Ein E-Bass im Futteral. Er habe gerade im Sowieso einen Gig gehabt und sei mit seinen Kumpels noch saufen gewesen.
   Da sei er ja früh fertig, meinte Bart, es sei gerade mal ein Uhr.
   Ohne Umschweife wollte der Gruftie wissen, ob sie bisexuell seien.
   „Nein“, antwortete Sevi in abweisendem Ton.
   „Wir sind schwul“, sagte Bart und sah dem Gruftie in die Augen.
   Er habe zwar eine Freundin, meinte der Gruftie, mache aber auch immer wieder mit Männern rum. Alles andere sei ja langweilig. Er wolle nur die Gi-tarre heimbringen, dann werde er losziehen, er sei ohnehin erst um fünf am Nachmittag aufgestanden. Entweder ins Sowieso oder ins Sowieso. Manchmal gehe er auch ins Sowieso, da gäbe es Sexpartys, vielleicht schaue er da noch hin.
   Sexpartys am Montag?, wunderte sich Bart.
   Ja. Das sei ein Swingerclub.
   Wie alt die Leute dort seien?
   Zwischen achtzehn und vierzig ungefähr.
   Ob er da mit seiner Freundin hingehe?
   Klar. Manchmal gebe es gute Typen, aber Scheiß Weiber, manchmal sei es umgekehrt.
   Sie redeten eine Weile in dieser umkreisenden Art.
   „Da kommt unsere Straßenbahn!“, rief Sevi, der sich nicht am Gespräch beteiligt hatte.
   Der Gruftie schüttelte jedem von ihnen mit überkräftigem Druck die Hand und winkte, als sie davonfuhren.
   „Das ist mir in zehn Jahren nicht passiert“, meinte Sevi, als sie sich in die Sitzschalen fallen ließen. „Kaum ist man mit einem schönen Mann unterwegs, wird man von so jemandem angesprochen.“ Er versuchte sein kokettes Lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz.
   „Den hätten wir mitnehmen können“, sagte Bart trocken. „Das war ein Angebot. Normalerweise würde ich mit so einem mitgehen, egal wohin. Ich würde gucken, wie es da aussieht, wo er sich rumtreibt, was er so von sich gibt, den ganzen Abend, was er tut, was er sieht, was seine Vorstellungen sind. Wie er unterwegs ist, eben. Vielleicht hätten wir Sex, aber das wäre nicht das Wichtigste. Ich würde einfach einen Abend lang sein Leben teilen.
   „Das ist Voyeurismus“, rief Sevi, plötzlich sehr aufgebracht. „Du willst nur in ein anderes Leben schauen, das nicht deines ist. Vielleicht für das Buch, das du schreiben willst.“
   Bart blieb ruhig. „Das ist nicht wahr. Mein Leben ist immer nur mein Leben. Wenn ich mit so jemandem mitgehe, sehe ich, wie es sonst noch sein könnte. Ich brauche mein eigenes Leben nicht. Ich bestehe nicht auf seiner Abgeschlossenheit. Genau das ist für mich Leben. Würde ich so was nicht machen, hätte ich Christoph nicht nach Wien begleitet und dich nicht kennengelernt. Hast du nicht gesagt, dein Leben verläuft in der immergleichen Bahn? Man hat nicht viel Zeit. Und es kommt darauf an, wie man sie verbringt. Was versäumt ist, ist für immer versäumt.“
   Bart sah zu Sevi hinüber, der sich mit müden Augen auf dem hölzernen Sitz hin und her schaukeln ließ. Bedrückt sah er aus. Irgendetwas schien er zu begreifen. Vielleicht, dass Bart ihm nicht treu sein würde.

Im Nachhinein wusste Bart immer, was er selbst gesagt, aber nur selten, was genau Sevi darauf erwidert hatte. Woran lag das? Nicht unbedingt daran, dass Bart nur um sich selber gekreist wäre, schließlich wollte er etwas über Sevi wissen, wollte sich verlieben. Wohl eher daran, dass ihm das, was Sevi sagte, nicht entschieden oder konsistent genug erschien, als dass er es als Standpunkt hätte abspeichern können. Sevis eigentlicher Kommentar bestand hauptsächlich, so jedenfalls kam es ihm im Nachhinein vor, in dieser sich zierenden, sich entziehenden Körpersprache. Von seiner verdammten Konventionalität war er auch dem Gruftie gegenüber nicht abgewichen. Bart hatte mit dem Gruftie geredet, Sevi hätte kein Gespräch zustande kommen lassen. Und das ist einfach eine Sünde, dachte Bart. Dieser Typ kam aus einer anderen Schicht, ein eher schlichtes Wesen, jedenfalls war er kein Bürgerkind wie wir zwei. So jemandem muss man die Hand reichen.
   „Ich liebe solche Leute“, sagt er, als sie zu Hause sind. „Leute, die den Mut haben, sich schon von ihrem Äußeren her so weit aus dem Fenster zu lehnen. Das hätte ich auch mal machen sollen in dem Alter. Dann hätte ich vielleicht nicht diesen grotesken Freiheitsdrang, dann wäre ich nicht die ganze Zeit auf der Suche nach Abenteuern, nach diffusen Wildheiten und Normverstößen. So was ist anstrengend auf die Dauer, weißt du? Ich war nicht jung, als ich jung war, das ist es vielleicht. Wie ist das bei dir, Sevi? Wirst du noch mal eine wilde Phase haben?“
   „Nein“, sagt Sevi, „ich glaube, dazu bin ich zu verschroben.“
   „Weißt du, was ich denke? Dadurch, dass wir uns getroffen haben, lernst du entweder die Liebe kennen, vielleicht gar nicht mal durch mich, oder es löst eine wilde Phase bei dir aus. Du hast keine Ahnung, wie gut du aussiehst. Du kannst jeden haben.“
   Sevi macht noch etwas zu essen, sie haben Hunger. Bart sieht ihm dabei zu, und ihm wird klar, dass er ihm wehgetan hat. Still rührt Sevi vor sich hin, alle Koketterie ist von ihm abgefallen. Ist, im Nachhinein betrachtet, nicht Sevi das schlichte Wesen, dem er nicht die Hand gereicht hat? Er geht zu ihm, umarmt ihn von hinten.
   „Kannst du mir eins sagen?“ Sevi wendet sich um, und seine Stimme klingt ratlos. „Was will so jemand wie du von so jemand wie mir?“
   Ohne Antwort zu geben küsst ihn Bart.
   Sevi wird morgen wieder früh aufstehen müssen, sie lassen das mit dem Essen und reißen sich die Kleider herunter. Bart spürt, mit wie viel verzweifeltem Gefühl Sevi ihn umarmt, wie viel Begehren aus seinen Blicken spricht, und hat ein schlechtes Gewissen. Er hat mich gern, und ich belehre ihn. Er will eine Beziehung mit mir, und ich spiele mit seiner Eifersucht. Sevi schließt die Augen, als sie sich küssen.
   „Hallo, Sevi“, sagt Bart.
   Er erhält keine Antwort.
   Und noch einmal: „Hallo, Sevi!“
   Ich will seine Augen sehen, denkt Bart. Verdammt, wieso schaut er mich nicht an? Ich will in seine Augen sehen! Er zieht ihm die Lider hoch. Neue, andere Gedanken steigen in ihm auf, verdichten sich und schieben sich vor seine Lust. Er merkt, dass ihm die Erektion abhanden kommt.
   „Ich bin nicht bei der Sache“, murmelt er und lässt von Sevi ab, „mir gehen tausend Sachen durch den Kopf.“
   Er steht auf, öffnet das Fenster und raucht eine Zigarette in den warmen Winterwind hinaus. Sein Exfreund ist im Raum. Merkwürdig deutlich spürt er seine Anwesenheit. Ihre Trennung liegt über zwei Jahre zurück, neun Jahre sind sie zusammen gewesen. Ergibt elf Jahre, nach denen er nun Anstalten macht, ihm innerlich untreu zu werden. Was er in der Zwischenzeit getrieben hat, zählt nicht, es war Zeitvertreib. Elf Jahre lang ist er in seinem Innern ausschließlich an diese Person gebunden gewesen, hat die Beziehung gefühlsmäßig über die Trennung hinaus aufrechterhalten, und nun wird ihm bewusst, dass er im Begriff ist, sie aufzulösen. Bart sieht das Gesicht seines Exfreundes vor sich, seine Bewegungen, hört seine Stimme. Nein, Sevi kann ihm nicht das Wasser reichen. Er ist nicht stark genug. Sein Exfreund hat eine seltsame Eigenart gehabt: Während kleiner banaler Streits, winzigen Unstimmigkeiten nach außen hin, verfiel er manchmal in eine fast katatone Starre, aus der heraus er den Kopf gegen die Wand schlug und so furchtbar zu schreien anfing, dass Bart fürchtete, jemand im Haus könnte die Polizei rufen. Alle Anstrengungen, ihn zu beruhigen, hatten es nur schlimmer gemacht. Dann war er neben diesem zitternden, aus tiefster Kehle schreienden Wesen gesessen und hatte, aus ganzem Herzen wünschend, dass es vorüberging. Genau dafür liebt er ihn jetzt, für die Angst, die er um ihn gehabt hat, für die tiefe ungeschützte Verzweiflung, zu der dieser Mensch fähig gewesen ist. Ihm habe ich gegeben, was man nur einmal geben kann, denkt er. Das hat er nun und wird es sein Leben lang behalten. Es wird keine große Liebe für mich mehr geben, ich werde mich nie mehr vollständig auf einen Menschen einlassen können. Bart bläst den Rauch aus dem halb geöffneten Fenster. Es kommt ihm vor, als rissen zwei Kräfte an seiner Seele, die dunkle, destruktive Treue zu seinem Ex, die ihn in der Vergangenheit festhält, und sein Wunsch, mit Sevi zusammen zu sein, der jetzt da ist. Ihm ist klar, dass er sich für die Gegenwart entscheiden muss. Unten parkt umständlich ein Auto ein. Bart ist nackt und friert. Armer Sevi. Was kann er dafür, dass er nicht mein Exfreund ist. Er schnippt die Zigarette hinaus in die Nacht und geht wieder zu ihm ins Bett.