Worship

   „Ich weiß, ich starre dich an“, sagt er am nächsten Tag. „Ich starre dich die ganze Zeit an.“
Mittags um eins sind sie schon wieder aufgestanden. Sevi gibt am Abend ein Essen. Für seine besten Freunde, meint er, das könne er nicht abblasen. Solle er auch nicht, meint Bart. Ab dem frühen Nachmittag spülen sie altes Geschirr, schnippeln Gemüse, kochen. Beide sind nackt, und Bart starrt ihn an.
   „Du bist wirklich unglaublich schön“, sagt er.
   Es ist nicht unbedingt Barts Art, mit Schmeicheleien um sich zu werfen und Leuten auf die Nase zu binden, dass er sie begehrt. Schwulsein ist ein hartes Geschäft, und man gibt ungern einen Vorteil aus der Hand. In jedem Fall beginnt man mit achtunddreißig um seinem Marktwert zu fürchten. Es ist immer sein Grundsatz gewesen, was das Aussehen anbelangt, in seiner Gewichtsklasse zu bleiben. Er legt Wert auf Ebenbürtigkeit, hat keine Lust, sich neben jemand anderem hässlich oder alt vorzukommen. Aber Sevi ist schön, und er will es ihm sagen. Nicht unbedingt die langen Haare, aber die kann man abschneiden, nicht unbedingt die Klamotten, aber die haben sie ja gar nicht erst angezogen. Ich habe das Schlimmste erlebt, sagt er zu sich wie zur Erklärung, das Schlimmste, was man erleben kann, den Verlust der großen Liebe. Ich habe erlebt, dass zu Ende geht, wovon man nie dachte, dass es zu Ende gehen könnte. Mir kann nichts mehr geschehen. Ich habe nichts zu verlieren. Es ist mir egal, was aus uns wird, diesem Sevi und mir, wenn nichts daraus wird, werde ich das Konkrement dieses Nachmittags in meinem Inneren einschließen und eine Perle draus wachsen lassen. Und deshalb kann ich ihm doch sagen, dass ich ihn schön finde, oder nicht? Bart leistet sich Verschwendung und genießt es.
   Er fände sich nicht besonders schön, meint Sevi, die Augen vom Zwiebelschälen gerötet, und zieht die Nase hoch, auch andere fänden ihn wohl nicht schön, sonst hätte er es doch merken müssen.
   „Was ist denn mit den Wienern los, haben die keine Augen? Oder traut sich keiner an dich ran? Leute, die besonders gut aussehen, haben es ja oft schwerer, als man glaubt.“
   „Immer bist du schneller mit deinen Komplimenten. Wenn ich dir was Nettes sagen will, hast du es schon über mich gesagt.“
   Sevi ist mager. An seinem Bauch treten die Adern hervor.
   „Sieht aus wie eine Fünfzigerjahre-Strukturtapete“, meint Bart.
   „Das hat noch keiner zu mir gesagt.“
   Bart folgt ihm aufs Klo und sieht ihm beim Pinkeln zu. „Ich will einfach sehen, wie du pisst.“
   „Das hat noch keiner sehen wollen.“
   „Du hast wohl überhaupt noch nichts erlebt.“

Warum war Sevi, wie er war? Wieso konnte oder wollte er nicht anders sein? Und Bart, warum wollte und konnte er nicht anders sein? Die Schimpfworte, die er Sevi zwei Tage später an den Kopf werfen sollte, lauteten Kulturbeutel, Chantal, Salondame. Der härteste Ausdruck, den er bei sich für ihn gebrauchte, war André Heller. Am ersten Tag, als er mit Christoph durch die Stadt gezogen war, hatten sie ihn in der Nähe des Burgtheaters gesehen, in Lacklederhose, eine junge Frau im Arm, André Heller, der von seinen Eltern eine Süßwarenfabrik geerbt hatte und, so sah es Bart, mit seinen verzuckerten Mega-Events für Karies im allgemeinen Geschmack sorgte. Warum bin ich nur so wütend auf Sevi, würde er sich zwei Tage später fragen, so aggressiv? Sevi ist schön, sein Körper ist schön, verdammt noch mal, ich will, dass sein Geist, sein Verhalten genauso schön, genauso wahr sind wie dieser Körper. Das ist es wohl. Im Augenblick begehre ich, in Zukunft will ich lieben. Ich weiß, dass es ein Unding ist, jemanden ändern zu wollen, dass man genau das Gegenteil erreicht und exakt die Eigenschaften verstärkt, die man diesem Menschen auszutreiben versucht, aber ich will es trotzdem. Ich will es, und ich tue es. So dachte Bart. Wie sehr das Bild, das er mit seinen Exorzismus-Versuchen dabei von sich selbst forcierte, in tiefster Tiefe von seinem Gegenteil bestimmt war, war ihm wohl nicht bewusst.
   Und was empfand Sevi?
   Sie unterbrachen ihre Gemüseschnippelei für eine Runde Sex, und als sie danach quer über den auseinander gerutschten Matratzen lagen, fragte ihn Bart danach. Er fragte, wie er sich fühle, nicht heute, an einem Tag, der wahrscheinlich anders sei als andere Tage, sondern normalerweise, in seinem Alltag, wie er sich zum Beispiel gefühlt habe am Tag, bevor sie sich kennenlernten.
   Sein Leben verliefe normalerweise mehr oder weniger in der immergleichen Bahn, meinte Sevi, ein bisschen langweilig, ein bisschen fad und unerfüllt. Aber jetzt, wo er Bart kennengelernt habe, könne es anders werden, vielleicht würde er nun die Energie haben, Dinge anzugehen, um die er sich schon lange herumdrücke.
   Sevi stellte sich also eine Zukunft mit Bart vor. Er leitete aus ihrer Begegnung eine langfristige Perspektive ab. Bart hatte die Erfahrung gemacht, dass es unter Schwulen immer einen Grund gab, nach einer vermeintlich innigen Nacht den Rückwärtsgang einzulegen und auf Abstand zu gehen. Konnte es sein, dass Sevi anders tickte? Dass er kein emotionales Strandgut war wie all die anderen? Dass er womöglich genauso verliebt war wie er selbst? Bart war seltsam glücklich. Wohlgefühl durchströmte ihn. Er sah Sevi tief in die wespengelben Augen in der Erwartung, dass er nun ihn etwas fragte. Sevi war jetzt dran, oder nicht? Er kann mich alles fragen, dachte Bart, ich bin bereit, meine finstersten Geheimnisse preiszugeben. Frag doch, Sevi!
   Aber Sevi fragte nicht. Da war nur dieser Seitenblick, kein gerader, offener Blick, sondern ein koketter, ein wenig überlegener Gesichtsausdruck, mit dem er, den Kopf in die Hand gestützt, an Barts nacktem Körper entlang sah. Was bedeutete das? Welche Botschaft versteckte sich dahinter? Düstere Ahnungen streiften Bart. War ihm nicht heute Nachmittag, als das Telefon läutete, die Art, wie Sevi sich meldete, seltsam affektiert vorgekommen? Waren ihm gestern, als sie sich kennenlernten, nicht die englischen Halbsätze aufgestoßen, die Sevi hin und wieder ins Gespräch einstreute, you know what I mean? Zierte sich Sevi? Geizte er mit sich? Hatte er begriffen, dass er Macht über Bart gewonnen hatte, und fing nun an, damit zu spielen? Was zum Teufel bedeutete dieser Blick?