Sex

Warum war Sevi, wie er war, das war die Frage, die sich Bart später stellen sollte. Im Grunde lautete seine Frage: Warum konnte er nicht anders sein? Details fielen ihm ein, die, so empfand er es im Nachhinein, dunkle Schatten vorauswarfen. Stadtansichten aus dem 18. Jahrhundert, deren strenge Linien allmählich aus dem Dämmerlicht des Wintermorgens heraustraten, Fotoreproduktionen von Mapplethorpe und Newton – Dinge, die Bart sich auf keinen Fall an die Wand gehängt hätte, schon gar nicht im Glasrahmen. Er hatte keine Lust, sie wirklich wahrzunehmen. Sonst gefiel es ihm in Sevis kleiner Wohnung: viele Bücher, schon mal gut, ein altes Sofa, ein großer Tisch, an dem offensichtlich öfter viele Leute saßen. Es war normal, gesund, gemütlich. Hier war jemand zu Hause.
   Wie war der Sex mit Sevi? Nackt sah er aus wie Jesus, mit seinen langen gewellten Haaren, dem schmalen, gut proportionierten, nicht muskulösen, aber sehnigen Körper. Nur dass Jesus keinen so großen Schwanz hätte haben dürfen, das hätte die Gedanken der Anhänger dieser seltsamen Religion, die ein unbekleidetes Folteropfer anbetet, in die falsche Richtung gelenkt. Das Problem mit dem Sex lag eher bei Bart.
   „Hast du G?“, fragte er. „Nicht mal Poppers?“
Seit seine letzte Beziehung in die Brüche gegangen war – das lag nun fast zwei Jahre zurück – hatte er es, sagen wir es so, bunt getrieben. Sex war für ihn zu einem To-go-Erlebnis geworden, einer Verrichtung ohne Folgen, der jede Option auf Nähe oder Tiefe fehlte. Inzwischen empfand er dabei ungefähr so viel wie bei einer Runde Jogging.
   „Hast du keine wilden Phasen gehabt?“, sollte er Sevi irgendwann in ihrem kurzen Zusammenleben fragen.
   „Eigentlich nicht.“
   „Ich mehrere. Aber ich glaube jetzt, dass das nicht besonders gut für mich war.“
Sevi hatte dreimal Sex gehabt in diesem Jahr, würde er ihm bei der Gelegenheit erzählen, einmal guten, zwei Mal schlechten. Nun, es war Dezember. Bart hätte seine schnellen Nummern gar nicht aufzählen können.
   Während sie miteinander auf der Matratze lagen, die Sevi zusammen mit der Gästematratze in die Mitte des Zimmers geworfen hatte, ging Bart auf, wie ramponiert er diesbezüglich war, wie weit weg von jedem tieferen Gefühl. Sie küssten sich, und er beobachtete: Sevi, sich, seine Gedanken. Sevi war ihm nahe, er selber aber war weit weg. Ich schaue bei allem zu, als würde ich unbeteiligt oberhalb der Szene schweben, dachte er. Er konstatierte Tönchen, die ihm nicht ganz echt erschienen, Hingebungsseufzer, pseudo-verliebtes Stöhnen. Bart hasste Schauspielerei. Nie würde er verliebter tun, als er war, oder sich leidenschaftlicher gebärden, als er sich fühlte, da war er sich sicher. Er hatte sich eine gewisse unromantische Härte angewöhnt. Gerade beim Sex. Ein bewusster Ausdruck seiner Illusionslosigkeit, wie er glaubte, ein Tribut an die Kälte des Lebens, das auf die Zartbesaiteten am allerwenigsten Rücksicht nahm. Jetzt wurde ihm klar, dass er die Fähigkeit verloren hatte, sich hinzugeben. Dass er sich schützte. Dass Sex für ihn angstbesetzt war, mit der Angst vor Enttäuschung. Und während er das, was da vor sich ging, mit einer Art distanzierter Neugier verfolgte, bemerkte er, wie Sevi echt wurde. Wie er sich, im Gegensatz zu ihm selbst, vollständig verlor. Sevi mit geschlossenen, schön geformten Augen. Ein Erlebnis, ihm von unten in die schmalen Nasenlöcher zu sehen, der Linie seines Adamsapfels zu folgen, den Atem zu spüren, der durch die geöffneten Lippen an den ebenmäßigen Zähnen vorbeiströmte. Kein Zweifel, Sevi stöhnte wahrhaftig. Und während Bart ihn fickte, langsam, sanft und lange, hoffte er, dass es diesem Menschen, den er da kennengelernt hatte, gelingen würde, ihm Vertrauen wiederzugeben, Vertrauen in den Körper, Vertrauen in die tiefere Bedeutung dessen, was sie da gerade trieben, Vertrauen in die Liebe.