Matthias Hirth: Seeweg in der Schweiz

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© privat

Christoph hatte einen Führerschein, aber Angst vor Autos. Auf ihn wartete eine Stelle in einem Uni-Forschungsprojekt, er sollte für vier Monate in Wien leben, also fragte er seinen Kumpel Bart, ob er nicht Lust hätte, ihn mitsamt seinen Sachen von München aus dorthin zu fahren.
   Bart war für Abwechslung. Er hatte gerade nichts zu tun. Er könnte sich ein paar Tage Wien ansehen.
   Von der Fahrt gibt es nichts Aufregendes zu berichten. Sie saßen in dem kleinen, bis unters Dach vollgestopften Peugeot von Christophs Vater und unterhielten sich über dies und das. Es war Abend, als sie in Wien ankamen. Nachdem sie Christophs Gepäck in seiner neuen Bleibe ausgeladen hatten, einer hohen, senfgelb gestrichenen, mit kinderbunt angemalten Möbeln eingerichteten Erdgeschosswohnung im 4. Bezirk, die er sich per Internet-Mitwohnzentrale besorgt hatte, gingen sie essen. Wiener Schnitzel, Erdäpfelsalat, denn sie waren in Wien. Anschließend beschlossen sie, das schwule Nachtleben um den Naschmarkt zu erkunden. Aufs Gerate Wohl betraten sie eine Bar mit Regenbogenfahne im Fenster, in der ausschließlich Rentner saßen. Der nächste Laden war ein Club, in dem ein ungefähr 2,10 Meter großer Berliner Transvestit namens Chantal Chantré eine mittelmäßige Show aufführte. Sie fühlten sich fehl am Platz, daneben, eher im Zoo als in einer Diskothek. Wahrscheinlich waren ihre feinstofflichen Teile noch auf der Höhe von Salzburg. Zwei Bier später ließen sie sich von einem Taxi in Christophs bunte Wohnung fahren und legten sich, weit auseinander, zum Schlafen ins grün lackierte französische Bett.

Der nächste Vormittag verging mit Einkaufen, Dinge für ein spätes Frühstück, das Nötigste für Christophs neuen Hausstand, einen vernünftigen Stadtplan aus Papier. Am frühen Nachmittag dann machten sie sich auf zu einem Spaziergang durch die Innenstadt. Christoph sang die ganze Zeit, irgendwelche Uralt-Schlager, in denen das Wort Wien auftauchte. Manche Melodien kamen Bart bekannt vor, aber wie musste einer drauf sein, dass er diese Texte auswendig wusste? Christoph konnte überhaupt jeden Schlager auswendig, schien es ihm. Das war typisch für Christoph. Er war der liebste Mensch auf der Welt, etwas tuntig und feminin, aber ohne jede Tücke und Gehässigkeit. Wer sich in den mal verliebt, hat Glück, dachte Bart. Warum tut das nur keiner?
   Obwohl es um den 10. Dezember war und die Schaufenster vor Weihnachtsdeko überquollen, wehte ein frühlingshafter Wind. Als der Abend dämmerte, standen sie vor dem Stephansdom. Christoph hatte das Bedürfnis, eine Kerze für seinen Vater anzuzünden, der eine Woche zuvor gestorben war. Das Auto, in dem sie gekommen waren, war nun Christophs Auto. Ströme von Leuten mit Tüten voller Weihnachtseinkäufe, die sich die riesige abgegriffene Messingklinke in die Hand gaben. Nach zehn Minuten in der Schlange vor dem Kerzenständer, während derer die verschiedensten Klingeltöne durchs Gewölbe hallten und Handyblitzlichter die Kreuzrippen aufzucken ließen, gaben sie es auf. Glühweinstände, Buden mit Christbaumkugeln, silber-goldener Flitter, Knabenchöre aus Lautsprechern. Über den Einkaufsstraßen schaukelten Glühbirnenkometen im warmen Wind. Jetzt, wo es dunkel war und die Leute von der Arbeit kamen, gab es vor dem Weihnachtsrummel kein Entrinnen mehr. Sie flüchteten Richtung Heldenplatz. Die Burg. Der Ring. Festungsartige Verwaltungsgebäude von mehreren hundert Metern Länge. Museen, von gründerzeitlichen Zieraten überwuchert wie von Würgepflanzen. Dimensionen eines verblichenen Riesenreiches, nach einer gewaltigen historischen Erektion zu einem Sieben-Millionen-Einwohner-Ländchen zusammengeschrumpft. Am Naschmarkt machten sie Pause im Café Savoy. Leicht bekleidete Göttinnen hielten Kugellampen, die gewaltigen Spiegel über den durchgesessenen Sofas waren seit Franz Josephs Zeiten nicht mehr geputzt, in den Wänden klebte noch der Zigarettenqualm von Karl Kraus, Joseph Roth und Heimito von Doderer. Ganz offensichtlich gehörte das Café nicht mehr in die gehobene Kategorie. Neben den Leuten, die auf dem Naschmarkt arbeiteten, verkehrte dort die schwule Subkultur, Stricher und ihre Freier.
   „Wär’ mein Stammcafé, wenn ich vier Monate hier wäre“, meinte Bart.
   Den Abend verbrachten sie mit Kochen, Duschen, Abhängen vor dem Fernseher. Es war Samstag. Später würden sie es noch mal versuchen mit dem schwulen Nachtleben, hatten sie ausgemacht.
   In den drei Tagen, die er sich in Wien aufhält, wird Bart eine komplette Beziehung durchleben mit allem, was eine Beziehung ausmacht: Kennenlern- und Verliebtheitsphase, Alltag, Entfremdung, Trennung. Wozu andere ein halbes Leben brauchen, wird er im schmalen Zeitfenster von zweiundsiebzig Stunden absolvieren.

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Matthias Hirth: Buchcover zum Roman "Lutra Lutra" © Dirk Bell/Voland & Quist
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