Die Entstehung eines Netzromans: Das erste Kapitel

Mit Unterstützung des Literaturportals Bayern schreibt der Münchener Schriftsteller und Ingeborg-Bachmann-Preisträger Thomas Lang einen interaktiven Roman – live im Netz auf netzroman.thomaslang.net. Starttermin war der 1. September 2016, erste „Bausteine“ der Erzählung wurden veröffentlicht und von den Leserinnen und Lesern kommentiert. Seit dem 30. November ist nun der erste Manuskripttext online. Ein Anlass, um einmal einen genaueren Blick auf Thomas Langs Einstieg in die Geschichte zu werfen.

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Der erste Teil des Manuskripts steht unter dem Titel Die Stimme. Eine Stimme, die in der Erzählung selbst auch präsent wird und  unheimlicherweise Elles Namen ruft. Es ist eine Stimme der Vergangenheit: 

 

[...] Es scheint, als würde jemand ihren Namen rufen, ein Hauch von einem Wort liegt in der Luft, ihr stellen sich die Nackenhärchen auf. Eeeeelle!, gerufen wie ein langgezogenes L. Sie erschauert. Ein Ruf wie aus dem Grab, wie aus dem Jenseits, aus der Hölle, aus – – –  Eeeeelle! Sie schafft es, sich nicht umzudrehen. Aber das ist nicht gut, es heißt, dass sie ihn ernst nimmt, diesen Laut, der nicht mal eindeutig vorhanden ist, der nicht in ihrem Kopf zu sein scheint und genauso wenig draußen. Sie nimmt den Eingang in den Blick. Die Chance, dass er offen steht, ist minimal. Sie ist gleich Null. [...]

 

Von ihrer Vergangenheit „gerufen" wird Elle, als sie ihre alte Schule wieder in Augenschein nimmt. Die Wedekind-Schule ist dem Verfall nahe, obwohl auch noch zu Elles Schulzeiten immer wieder Versuche unternommen wurden, das Gebäude zu retten. Doch der Ort wehrt sich gewissermaßen gegen seine „Verschönerung“. Zu Beginn der Textpassage gibt Lang eine ausführliche Schilderung des sich im „Zusammenkrachen“ befindlichen Gebäudes. Verbleichte Farben, Risse, Brüche, sie zeichnen kein freundliches Bild von dem Ort, wo Elle jahrelang fast täglich ein- und ausgegangen ist.

Vermengt ist die detailreiche Beschreibung  selbst die schiefe Treppenstufe, über die Elle (oder eigentlich jeder, der das Gebäude betrat) gelegentlich stolperte, ist noch da mit Elles Erinnerungen an die Schulzeit. Ein Spiel des Autors mit den gemischten Gefühlen, die wahrscheinlich jeder kennt, wenn er sein altes Schulhaus wiederbetritt: Nostalgie ist dabei, aber auch ein leises Grauen.

Aus den Anmerkungen des Autors zum Aufbau des Textes geht hervor, dass sich die Geschichte auf zwei Ebenen abspielen wird. Ein Erzählstrang umfasst die Tat der Jugendlichen, er ist in der heutigen Gegenwart angesiedelt. Eine weitere Erzählebene ist die Zukunft, etwa zehn Jahre später, in der Elle als Erwachsene, die die Geschehnisse von damals vermeintlich hinter sich gelassen hat, in ihre Heimatstadt zurückkehrt. Auch auf ihre „Mittäter" aus der alten Clique wird sie hier nochmals treffen.

Der erste Manuskripttext setzt also in der Zukunft ein (etwa 2026), in ihm stecken zwischen den Zeilen bereits die Erfahrungen der Jahre nach der Tat. Der Erzähler ist hier Lang zufolge sehr nah bei Elle, erinnert sich mit ihr an das Leben davor und danach. Die Tat selbst und die Erzählebene, auf der sie sich ereignet, dringt dabei jedoch immer wieder durch. Deutlich wird dies vor allem in den Passagen zum Ende des ersten Textes. Da ist sie präsent, die 16-jährige Elle und mit ihr die Dunkelheit der Leichenschändung, auch wenn diese nicht explizit erwähnt wird.

 

[...] Sie stand da oben einen Moment lang still, es kam ihr vor, als hätte sich ihr Leben, mit allen Menschen, die sie kannte, vor ihr ausgebreitet. Alles war klar, es existierten keine Fragen mehr. Nur noch ein Satz, die Summe, das Lebensfazit eines sechzehnjährigen Mädchens:  Unsere Welt, ist schlecht. Unsere, Welt, ist schlecht. [...]

 

Nach den Rückmeldungen der ersten Leser kommt der Einstieg in die Geschichte bei ihnen offenbar gut an. In den nächsten Tagen sollen weitere Teile des Manuskipts folgen.