Der Netzroman „Der gefundene Tod“: Jetzt schreiben auch Schüler mit!

Mit Unterstützung des Literaturportals Bayern schreibt der Münchener Schriftsteller und Ingeborg-Bachmann-Preisträger Thomas Lang einen interaktiven Roman – live im Netz auf netzroman.thomaslang.net. Starttermin war der 1. September 2016, erste „Bausteine“ der Erzählung wurden bereits veröffentlicht und von den Leserinnen und Lesern kommentiert. Nun folgt ein weiterer Schritt im Rahmen des Projekts, der eine neue Stufe der Interaktion erklimmt: eine Schulklasse arbeitet mit.

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Mit Beginn des neuen Schuljahrs geht auch das Netzroman-Projekt von Thomas Lang in die nächste Phase: Eine neunte Klasse der Joseph-von-Fraunhofer-Realschule beteiligt sich ab sofort in der Rubrik „Spielfigur“ an der Erzählung. Unter Anleitung ihrer Deutschlehrerin Theresa Weigel und in Zusammenarbeit mit dem Autor erhalten die Schülerinnen und Schüler der 9f im Rahmen des Unterrichts kleine Aufgaben und Arbeitsaufträge, mit denen sie auf die Gestaltung der Geschichte Einfluss nehmen können. Später sollen sie sogar eine eigene Figur zur Ausarbeitung bekommen.

Am 23. November 2016 ist der Autor erstmals in der Klasse zu Gast und präsentiert sein Projekt. Nach einer kurzen Vorstellung seines Werdegangs und seiner bisherigen Publikationen geht es sofort zur Sache: Thomas Lang schildert den realen Hintergrund der Erzählung – den Fall einer Leichenschändung durch Jugendliche aus dem Kreis Traunstein – und fragt die Klasse nach ihren Gedanken und Empfindungen zu diesem Ereignis.

Die ersten Reaktionen sind von Ekel und Abgrenzung geprägt; vor allem ist für die Schüler eine solche Tat aber völlig unvorstellbar, ja „dumm“ oder sogar „krank“. Es fällt ihnen nicht leicht, sich in die Beteiligten hineinzuversetzen. Sie diskutieren die Thematik dennoch differenziert und merken schnell: Gerade das Unbegreifliche ist für das kreative Schreiben interessant. Ihre Überlegungen bleiben zudem nicht bei den Tätern stehen, sie fragen auch erstaunlich schnell nach dem Toten und den Angehörigen des Opfers, dem sozialen Umfeld.

Plausibel erscheint ihnen zwar, dass etwa Alkoholeinfluss das fatale Verhalten der Jugendlichen mitverursacht haben könnte; auch ein Hang der Clique zum Vandalismus wäre vorstellbar. Bei einem Menschen als Opfer und Ziel solcher Zerstörungswut verläuft für die Schülerinnen und Schüler aber eine klare Grenze des Nachvollziehbaren. Hier geht es schließlich um ganz rudimentäre Werte wie Menschlichkeit und Respekt. Eine Schülerin wirft auch die Frage nach religiösen Implikationen auf – nach einem möglichen Leben nach dem Tod, das durch eine solche Schändung verletzt werde. Für die meisten Schüler ergibt die Tat einfach keinen Sinn. Sie bleibt ihnen fremd. Und unheimlich.

Auf viele Fragen, die im Raum stehen, müsse nicht gleich eine Antwort gefunden werden, erläutert Thomas Lang, das mache eben die besondere Kraft von Literatur aus. Richtig oder falsch gebe es hier ohnehin nicht. Aber vielleicht kann die längere Beschäftigung mit den Fragen (z.B. nach Schuld, Mitgefühl oder Gruppenzwang) im Verlauf der fortschreitenden Erzählung auf deren Weise plausible Antworten liefern.

Im Anschluss an die Diskussion über die realen Hintergründe gibt Lang der Klasse einen kleinen Einblick in die Konzeption der Geschichte und sein weiteres Vorgehen, etwa wie er sich Figuren und Orte überlegt, die Schule, den Bahnhof und die Zimmer der Jugendlichen. Da all diese Bausteine der Geschichte aber noch nicht feststehen, bittet er die Klasse um Mithilfe. Es wird eifrig gesammelt und entworfen, angefangen bei der Hauptfigur Elle:

 

Elle

- ist 15-16 Jahre alt > feiert ihren Geburtstag

- lebt bei der Mutter. Der Vater ist nicht präsent.

- hat eine jüngere Schwester (Alice).

- ist keine besonders gute Schülerin, tendiert im Unterricht zur Unsichtbarkeit.

- will kein Mainstream-Mädchen sein.

- hängt mit einer Clique ab, vor allem mit Jungs und am meisten mit Junis.

- hat noch keinen Freund.

- schreibt ein Snap-Chat-Tagebuch und schickt sich selbst auf einen zweiten Account Messages und Bilder. Das Wichtige daran: beim nächsten Öffnen der App ist alles wieder weg.

 

Wie stellt ihr euch Elle vor?

Welche Klamotten zieht sie an?

Wie trägt sie ihre Haare? Von welcher Frisur träumt sie?

Welche Musik hört sie?

Von welchem Jungen träumt sie?

 

Anhand von kurzen Skizzen zum Personal der Geschichte soll sich die Klasse überlegen, wie sie sich die Hauptfigur Elle vorstellen würde. In Partner- und Gruppenarbeit werden Stichpunkte und Skizzen angefertigt. Die ganze Klasse ist engagiert dabei, es geht schnell ins Detail. Das überraschende Ergebnis: Die Ideen der Schülerinnen und Schüler zu Elles Aussehen, ihren Hobbys und ihrem Musikgeschmack sind völlig heterogen, von Grufti bis Girlie ist alles dabei. Es gibt aber auch einige Eigenschaften, die sich in mehreren Beschreibungen wiederfinden, etwa dass Elle eine sensible Einzelgängerin ist und lieber nicht auffallen will. Und einen Goldfisch soll sie haben! Die umfangreichen Ergebnisse der ersten kreativen Aufgabe werden am Ende der Stunde eingesammelt und sollen in der weiteren Ausgestaltung der Hauptfigur Verwendung finden.

 

 

 

Eindrücke von Thomas Langs Schulstunde in der 9f an der Joseph-von-Fraunhofer-Realschule; unten rechts: Lehrerin Theresa Weigel © Literaturportal Bayern

 

Zum Abschluss der beiden Doppelstunden stellt Thomas Lang der Klasse die weiteren Figuren der Geschichte vor, wie Junis, Elles engsten Freund, und ihre Clique. Auch über die Bedeutung von Details und die Problematik von Klischees spricht er noch mit ihnen. Zu wiederholtem Lachen führt, wenn die Schüler den Autor in Sachen Klamotten oder Musik auf den neuesten Stand bringen („Na, das können Sie sich dann ja mal auf Spotify anhören") und dass einige Figuren zufällig die Namen von Schülerinnen und Schülern aus der 9f tragen. Mit dem sozialen Umfeld von Elle soll es in den kommenden Stunden unter der Anleitung ihrer Lehrerin nun weitergehen. Von der Interaktion mit den Schülern, die im selben Alter sind wie die Hauptfiguren der Geschichte, erhofft sich Thomas Lang vor allem Ideen und Input für eine authentische jugendliche Erzählperspektive.

Ein großer Dank geht an Theresa Weigel für ihr tolles Engagement und an Schulleiterin Lydia Edenhofer, deren Schule einmal mehr große Offenheit für kreative Projekte beweist auch beim Poetry Slam mit Kindern war sie bereits vertreten sowie bei der Lesereihe gegen Fremdenfeindlichkeit So fremd wie wir Menschen.

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