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Hut ab vor Paul Auster

Am 30. April 2024 ist der amerikanische Autor Paul Auster verstorben. Der Verfasser zahlreicher Romane und Essays gilt als einer der wichtigsten Autoren seiner Generation. Das Literaturportal Bayern ehrt Auster mit einem Kommentar von Alexander Milstein zu Person und Werk sowie einem Bild, auf dem der Schriftsteller zu sehen ist wie nie zuvor: mit einem Hut auf dem Kopf.

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Ich wollte zum ersten Mal einen Text übersetzen, als ich Ende des letzten Jahrhunderts Paul Austers Roman The Music of Chance las. Ich wollte einfach sehen, ob die Musik nach der Übersetzung zu hören sein würde. Die Sätze, mit denen die ersten Seiten des Romans geschrieben sind, erzeugten in meinem Kopf nicht nur verschwommene Aufnahmen von Roadmovies, sondern auch einen vagen, furchtbar angenehmen Blues mit Strecken von Steele-Gitarre zwischen Verben und Präpositionen. Ohne in Schönreden über den edlen Weg eines literarischen Übersetzers zu verfallen, den ich damals nicht beschritten, sondern nur ausprobiert habe, d.h. ich bin mit einem Fuß hineingetreten und gleich wieder zwei Schritte zurück ins Gebüsch meiner eigenen Prosa gegangen ... um es erst zwei Jahre später wieder zu versuchen, und das nächste Mal nicht aus dem amerikanischen Englisch, sondern aus dem Berliner Deutsch von Judith Hermann. Und diesmal wollte ich auch einfach hören, wie es klingen würde. Ich habe die Übersetzung des Romans aufgegeben, als ich zufällig eine Ankündigung in der Zeitschrift „Ausländische Literatur“ sah – die Übersetzung von jemandem sollte dort bald veröffentlicht werden. Ich weiß nicht, ob ich den ganzen Roman übersetzt hätte, wenn das nicht passiert wäre. Ich habe dann mir lange Zeit alles gekauft, was aus der Feder von Paul Auster kam, so einen Anstoß gab mir The Music of Chance. Dann folgten Moon Palace, Leviathan, Sunset Park, ...  Es gab keine Chronologie in meinen Lektüren, ich habe auch gelesen, was davor kam – The New York Trilogy, The Red Notebook, ... Nein, Das Rote Notizbuch kam später heraus als The Music of Chance .... In der New York Trilogy taucht es als leblose Figur auf, ein Papierteufel, der Held zerstört es am Ende, indem er es entweder verbrennt oder ins Meer wirft, „weil die Menschheit es nicht sehen darf“, oder so ähnlich ... Und was war ich überrascht, als ich ein paar Jahre später bei Hugendubel auf der Theke das Buch mit dem Titel The Red Notebook sah – ich traute meinen Augen nicht. Dann nahm ich es in die Hand, blätterte es durch und kaufte es. The Red Notebook entpuppte sich als Nonfiction, es war eine Sammlung der unglaublichsten Zufälle, die sich bis dahin im Leben des Autors ereignet hatten. Einige Jahre später wurde eine Oper mit einem Libretto aus The Red Notebook geschrieben, das dort mitten in der Handlung von Paul Auster selbst vorgelesen wurde.

Ich beschloss, Paul Auster zu zeichnen, als ich einen seiner Texte vor ein paar Tagen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder las. Ein Link dazu wurde mir von einer Schriftstellerin, die ich kenne, zugeschickt. „Die Wölfe von Stanislau“, das ist das heutige Iwano-Frankiwsk, hier ist er.

Big Apple

Als erstes erfuhr ich aus diesem Text, dass der Großvater väterlicherseits des Schriftstellers aus der Ukraine in die USA kam. Mein Urgroßvater reiste ebenfalls aus der Ukraine in die Staaten, kehrte dann aber in die Ukraine zurück. Trotzdem bin ich auf die Welt gekommen. Auster schreibt, er sei nur auf die Welt gekommen, weil sein Großvater das blutige Europa verlassen habe, wo er mit Sicherheit in einem Pogrom umgekommen wäre. Dennoch wurde einer meiner beiden Urgroßväter väterlicherseits bei einem Pogrom getötet. Aber ich wurde geboren. Der Urgroßvater ging vor die Tür, um seine Familie zu schützen, die Pogromisten töteten nur ihn. Das ist alles, was ich weiß. Als ich beschloss, Paul Auster zu zeichnen, erinnerte ich mich nicht einmal daran, dass ich ein Skizzenbuch und den Text zu den Spielkarten hatte. Auster kam vielleicht nicht hinein, er blieb im Album Writers, denn als ich bereits diesen Hut auf seinem Kopf gezeichnet hatte, ein Kartenhaus, ich fand es kitschig und wollte die Karten übermalen, damit es nur ein schwarzer Hut wäre, aber ich konsultierte eine meiner Bekannten, eine ehrwürdige Künstlerin, und sie sagte, ich solle es nicht übermalen, also blieb mein Auster unter serpentine solitaire, serpent ... aber wo eine Schlange ist, ist auch ein Apfel ... Hier ist es natürlich der Big Apple. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Auster nie einen Apfel auf seinem Hut getragen hat, ich habe noch nicht einmal ein Bild von ihm gesehen, auf dem er einen Hut trägt. Ich habe eines gesehen, auf dem er neben einem riesigen Hut steht, aus Stein oder Bronze, der auf den Manuskripten ruht, eine Straßenskulptur. Ich dachte zuerst, der Apfel läge gar nicht auf dem Hut, sondern im Schalltrichter einer Posaune oder einer Trompete wie eine Surdina ... Eine Posaune, wahrscheinlich, denn Posaune sieht aus wie die Schließe einer Brosche, und es musste eine Brosche gewesen sein, ich habe ein Album mit dem Titel Bursche mit Broschen, da sind viele Leute drauf, von Salinger und Frisch bis Zaplin und Krasnjaschtschich ... Aber ich dachte dann, dass es nicht nur ein Apfel sein würde, sondern ein Apfel mit einem Skyline-Blush. Dann gab ich die dumme Idee auf, den Apfel in eine Manhattan-Tapete einzuwickeln, aber der Gedanke an eine Brosche war bereits verworfen und der Apfel war von der Posaune in den Hut gewandert. Diese Geschichte wurde mir im Big Apple von einem Bewohner eines Apartments in der Ludlow Street in Lower Manhattan erzählt. Und seine Großmutter hat sie ihm erzählt. Mischas Großmutter war in ihrer Jugend mit Lev Landau ausgegangen. Sie stand ganz am Anfang der Liste der „Frauen in seinem Leben“. Sie kannte Landau so, wie ihn nur wenige kannten: sehr schüchtern und mit Todesangst vor eben diesen begehrten Frauen.

Um diesen frustrierenden Komplex zu überwinden, kam der junge Physiker auf die Idee, sich einen Apfel auf den Hut zu legen und so durch die Straßen zu ziehen. Ob es wirklich so war, weiß ich nicht. Dies steht auch am Anfang und Ende von Die Wölfe von Stanislau: Wenn etwas einen starken Eindruck macht, ist es nicht so wichtig, ob es tatsächlich passiert ist, sagt dort Paul Auster. Dem stimme ich zu. In der Prosa habe ich die Geschichte über Mischas Großmutter nie verwendet. Hätte ich das getan, gäbe es wahrscheinlich einige Vergleiche mit Newton, nun ja ... Auf meiner Landau-Grisaille ist der Apfel jedoch nicht auf dem Hut, sondern direkt auf Landaus Kopf, und überall drum herum tobt der Krieg der Bogenschützen, sogar eine Mondsichel am Himmel ist jemandes Bogen ... Wie auch immer, der Apfel war noch nicht auf dem Hut in meinen Gemälden, und nichts hinderte mich daran, zu zeichnen, was ich zeichnete, ohne mich selbst zu wiederholen. Die Spielkarten stammen also aus The Music of Chance, einem Roman über Poker.

P.S.: Das Postskriptum ist kein Travels in the Scriptorium (ein weiteres Paul-Auster-Buch, das ich gelesen habe), und auch der vorherige Text, den ich gleich nach dem Zeichnen des Porträts am 29. Januar 2024 geschrieben habe, ist kein Nachruf, sondern ein Kommentar zum Porträt. Für einen Nachruf enthält er zu viele unnötige Dinge und Personen, wie die Herkunft des Apfels, Landau, usw. Ich werde jetzt an den Text erinnert, weil ich einen Facebook-Beitrag einer Schriftstellerin gelesen habe, die auch Die Wölfe von Stanislau gelesen hat und bei ihren Nachforschungen herausfand, dass Paul Austers Großvater von dessen Ex-Frau erschossen wurde, als er auf ihren Wunsch hin eine Glühbirne einschraubte, während er auf einem Tisch stand. Ich habe die Fakten nicht überprüft ... aber unwillkürlich kam mir dieses ein bisschen Wilhelm-Tellianische Bild in den Sinn ... nur dass statt eines Apfels eine Birne zu sehen ist, die nicht gegessen werden kann ... und ob Paul Austers Großvater in diesem Moment einen Hut trug, in dem die Birne fallen könnte ... glaube ich nicht, wahrscheinlich nicht ... Paul Austers letztes Buch ist Bloodbath Nation, ein Sachbuch über das Waffenproblem in Amerika, das ich noch nicht gelesen habe. Schon in der Inhaltsangabe wird auf die Episode des Mordes an Paul Austers Großvater verwiesen, eine Familiengeschichte, die ihm lange nicht erzählt wurde und die natürlich einer der Anstöße für das Buch war. Ich muss gestehen, dass ich damals, Ende Januar, einen seltsamen Gedanken hatte: über gemeinsame Bekannte das Porträt dem Maestro selbst zu zeigen … Nein, nein, sagte ich mir, das ist völlig unpassend, und ich habe ihnen nichts geschickt. Und nun, als ich im Album Writers nach dem Porträt suchte, hatte ich ein seltsames Gefühl des „Träumens“: Paul Austers Porträt war nicht da ... Bis mir einfiel, dass ich es damals in das Album Cards for the Soul gelegt hatte, einfach weil ich es am Tag zuvor zusammengestellt hatte, ein ganz kleiner Solitär aus Spielkartenbildern ... von wo aus ich es gerade jetzt in das Album Writers übertragen hatte. Hut ab vor dem Meister.

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