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07.05.2024, 10:03 Uhr
Dagmar Leupold
Text & Debatte
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Slata Roschal © Ulrich Schäfer-Newiger

Rezension zu Slata Roschals „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“

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© Claassen / Ullstein

In ihrem neuesten Roman Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten (Verlag Claassen/Ullstein) umkreist Slata Roschal auf ironisch-scharfsichtige und sprachlich virtuose Weise die für ihr gesamtes bisheriges Werk zentralen Themen von Migration, Identität und Zugehörigkeiten. Die Autorin Dagmar Leupold hat diesen Roman für uns gelesen.

Slata Roschal bleibt auch in ihrem neuen Roman Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten den Themen treu, die bereits in ihrem gefeierten Romandebüt aus dem Jahr 2022 153 Formen des Nichtseins im Zentrum standen: Identität, Migration, Fremdheit, Zugehörigkeit, Mutter- und Autorschaft. Formal geht Roschal diesmal anders vor, an Stelle der Bricolage aus Bibelzitaten, Werbeslogans, Annoncen und Schnipseln mythologischer Motive tritt eine erzählerische Bewegung, ein Kreisen um die Erfahrungen der Ich-Erzählerin, Maria Nowak. Mittdreißigerin, von Beruf Übersetzerin, Mutter zweier Kinder und Ehefrau eines deutlich älteren Partners, weist Maria Symptome einer chronischen Erschöpfung auf. Erschöpft von einem aufreibenden Alltag als berufstätige Mutter, erschöpft vom andauernden Kampf um den besten Startplatz – im privaten Umfeld konkurrierender Kitamütter genauso wie in der Verlags- und Kulturszene –, erschöpft von ausufernden Selbstbefragungen, zermürbenden Erfahrungen der Zurücksetzung und vergeblichen Versuchen der Zugehörigkeitsbestimmung:

Ich bin ein seltsamer Mensch, ein komplizierter Mensch, ich vertrage keine Nachbarn, Mitbewohner und Hunde, reiche keinem freiwillig die Hand, ich sitze hier wie in einer Schale, wie ein Einsiedlerkrebs, solange keiner etwas von mir will, bin ich zufrieden.

Hier, das ist ein Hotel in Mecklenburg, in das sich die Protagonistin für eine Auszeit und intensive Arbeitsphase zurückgezogen hat. Ihr Auftrag: Briefe deutscher im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten und nach Kanada Ausgewanderter herauszugeben. In den Brieftexten wimmelt es von denglischen Hybridformen, die neue und die alte Sprache fusionieren zu einem eigenen Soundtrack.

Roschals lakonischer Duktus – viele Sätze sind knapp wie Schüsse, elliptisch, münden ins Offene, Unbestimmte – verleiht der Stimme und dem Blick Maria Nowaks eine illusionslose Schärfe und Pointiertheit. Maria seziert mit kühlem Blick die leeren Versprechen ideologischer, psychologischer und kommerzieller Vereinnahmungsversuche und entlarvt sie als das, was sie sind: Mogelpackungen. Die Adressatinnen heißen alle wie die polnischstämmige Übersetzerin selbst Maria oder Marie oder Mary oder Mari, die Absender der Briefe dagegen Joseph, Joe, Jo, Seppi – man kann sie also durchaus als Chiffre, als Rhizom für das ikonische, paradigmatische Ur-Flüchtlingspaar Maria und Joseph lesen. Damit erhält die Berufswahl der Maria Nowak eine weitere, eine symbolische Dimension. Beim Übersetzen handelt es sich hier weniger um die Übertragung aus der einen natürlichen Sprache in die andere als um die subversive Selbstbehauptung der Wurzellosen, Vertriebenen im Idiom der Literatur:

Migration ist kein Hintergrund, weil es zu viel ist, um nur Hintergrund zu sein, es sind keine Wurzeln, die sich von einem Boden nähren, heimlich, tief unten. Meine Wurzeln sind an den Spitzen miteinander verbunden zu Kreisen, vermeiden es, etwas außerhalb ihrer selbst zu berühren.

In der Schlussszene des Romans liegt die Großmutter der Erzählerin im Sterben und greift zurück auf die Sprache, in der ihre Zunge zuhause ist, das Jiddische. Vielleicht sollten wir Roschals Roman selbst als den Versuch einer Übersetzung lesen, die der Sprachlosigkeit in einer kalten, zersplitterten Gesellschaft kritisch Paroli bietet. Es wäre dann an der Literatur, für die Entwurzelten und Wurzellosen eine Muttersprache jenseits von Machtdispositiven einzuschmuggeln. Aber Vorsicht, viel Grund zu Zuversicht, gar naiver Hoffnung gibt es bei den längst angebrochenen letzten Tagen, auf die der Titel anspielt, und angesichts der zutiefst ironisch-scharfsichtigen Weltbetrachtung der Erzählerin (und der Autorin) nicht: Es ist lächerlich, in Küchenlatein zu träumen.

 

Slata Roschal: Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten. Roman. Claassen, Berlin 2024, 176 S., ISBN 9783546100762, € 22,00.