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25.04.2024, 12:20 Uhr
Gerald Fiebig
Aufs Jahr geschaut
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Aufbrüche in den Frühling (1)

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„Im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt.“ Ein Foto vom Revolutionstag 25. April 1974 hängt am Lissabonner Largo do Carmo genau an der Stelle, an der es aufgenommen wurde. Alle Bilder (c) privat

Zur Reihe: In Aufs Jahr geschaut widmet sich jeweils eine Autorin oder ein Autor des Literaturportals Bayern auf literarisch-künstlerische Weise einer Jahreszeit und gewinnt dieser im Format eines monatlichen Beitrags poetische, politische, alltagssensibel-lyrische oder bildhafte Reflektionen ab, welche die Leserschaft einmal ganz anders „aufs Jahr schauen“ lässt. In den Monaten April, Mai und Juni „blickt“ für uns auf den Frühling der Autor Gerald Fiebig.

*

Es ist der 25. April 2024, und wie vor 50 Jahren fällt er auf einen Donnerstag. An diesem Donnerstag vor 50 Jahren befreite sich Portugal von einer 48 Jahre währenden Diktatur. Die „Nelkenrevolution“ war ein politischer Frühling im wahrsten Sinne. Nicht nur, weil die Bevölkerung den revolutionären Soldaten Frühlingsblumen schenkte, die diese an ihre Gewehre steckten. Auch nicht nur, weil diese Gewehre nicht gegen Menschen abgefeuert wurden (die einzigen Toten und Verletzten dieser Revolution gehen auf das Konto der faschistischen Geheimpolizisten, die nicht einsehen wollten, dass sie verloren hatten). Es war ein frühlingshafter Aufbruch, weil hier nicht nur ein Regime durch ein anderes ersetzt, sondern in einem tiefgreifenden Prozess versucht wurde, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen.

Von Walter Benjamin stammt der Gedanke, dass Revolutionen nicht – wie Marx es formulierte – die Lokomotiven der Weltgeschichte seien, sondern der Griff der in einem Zug Richtung Abgrund sitzenden Menschheit nach der Notbremse.

Auf die Nelkenrevolution trifft das in besonderer Weise zu. Denn 1973 war nicht nur wegen des Jom-Kippur-Kriegs ein Jahr der weltgeschichtlichen Zäsur. Mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems der festen Wechselkurse manifestiert 1973 auch das Ende einer vergleichsweise „gebändigten“ Phase des globalen Kapitalismus. Am 11. September 1973 wird die Entfesselung der neoliberalen Bestie noch auf ungleich brutalere Art durch den Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende in Chile markiert: das Exempel, mit dem statuiert wurde, dass durch demokratische Wahlen niemals eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geschaffen werden dürfe. Die portugiesische Revolution, nur knapp mehr als ein halbes Jahr später, nimmt sich da in der Tat wie ein letzter Griff nach der Notbremse gegen den weltgeschichtlichen Abwärtstrend aus.

Anfang April war ich nach Portugal gefahren, um mich an der Sonne der Erinnerung an diesen politischen Frühling ein wenig zu wärmen. Gerade weil ich meine Augen nicht vom Grauen der Gegenwart abwenden kann – dem Grauen, das die Hamas am 7. Oktober 2023 entfesselt hat, und dem Entsetzen darüber, wie viele Menschen weltweit sich vorbehaltlos auf die Seite der judenhassenden Schlächter, Mordbrenner und Vergewaltiger stellen und sie als Freiheitskämpfer feiern –, möchte ich dies für einen kurzen Moment aufbrechen, an der Quelle dieser selbst längst zerbrochenen Hoffnung. Ich möchte es Walter Benjamins Engel der Geschichte gleichtun, „der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt“.

Links unten sieht man die Spuren der Buchstaben „Posta restante“ an den Arkaden der Praça do Comércio, Ecke Rua do Arsenal.

Walter Benjamin selbst hat es bekanntlich nicht bis Lissabon geschafft, wo so viele andere Emigrant:innen aus Nazideutschland auf die Schiffspassage ins rettende Amerika warteten. Ihre Hoffnungen und Ängste kristallisierten sich an dem Postamt an der nordwestlichen Ecke der riesigen Praça do Comércio. Die „Posta restante“, von deren Schriftzug heute nur noch Spuren zu erkennen sind, war die Adresse für Empfehlungsschreiben und Geldanweisungen und somit für die Erlangung eines Visums für die Vereinigten Staaten.

1974 war im Gebäude, das die Posta restante beherbergt hatte, das Innenministerium. Deshalb fuhren in den frühen Morgenstunden des 25. April die Panzerfahrzeuge der aufständischen Soldaten dort auf – ein Schlüsselmoment des Revolutionstages. Er führte dazu, dass Staatschef Caetano sich in die Polizeikaserne am Largo do Carmo flüchtete. Dort kam es später am Tag zum Showdown, der mit seiner Absetzung endete.

Die Emigrant:innen der Nazizeit mussten von Lissabon aus all ihre Hoffnungen auf die USA richten. Den Staat Israel als Zufluchtsort für Jüdinnen:Juden gab es noch nicht – jenen Staat, dessen Vernichtung nicht nur die Hamas betreibt (und nun auch wieder ganz aktiv deren Hintermänner in Teheran), sondern jener weltweite Chor, der sich mit israelfeindlicher Propaganda von „Genozid“ und „Apartheid“ heiser schreit. Geht man im April 2024 durch die Lissabonner Straßen, die wohl einst auch die jüdischen Emigrant:innen auf ihrem Weg vom Café Suiça zur Posta restante passierten, sieht man denselben antisemitischen Müll an den Wänden wie von Berkeley bis Berlin.

Es tut fast noch ein bisschen mehr weh, wenn ein Aufruf zum „April für Palästina“ das Andenken an einen einst wirklich emanzipatorischen Aufbruch zu einer freien Gesellschaft missbraucht. Aber das ist meiner eigenen Nostalgie geschuldet, überraschen darf es nicht – ist es doch nur die portugiesische Variante der verdrehten Denkweise des sich „links“ dünkenden Antisemitismus.

Die „Guerilla-Metaphysik“ und „Werwolfromantik“, die Jean Améry schon 1969 der westlichen Linken attestierte, erweisen sich dabei als so zählebig, dass das quasi-mythische, ahistorische Stereotyp des moralisch per se gerechtfertigten palästinensischen „Widerstandskämpfers“ heute sogar einem religiös-apokalyptischen Todeskult wie der Hamas zugesprochen wird, „als wäre der Orientalismus eine orientalische Erfindung“ (so Thomas von der Osten-Sacken und Oliver M. Piecha, im besten mir bekannten aktuellen Text zur Palästinafrage, ihrem Beitrag zu dem von Tania Martini und Klaus Bittermann herausgegebenen Band „Nach dem 7. Oktober“).

Der zynische Treppenwitz der Ideengeschichte besteht hier nicht nur darin, dass das Konzept des „Orientalismus“ vom wohl berühmtesten palästinensischen Intellektuellen stammt, von Edward Said, sondern vor allem darin, dass die seit Jahrzehnten tradierte Selbststilisierung der palästinensischen Akteure für ein westliches Publikum eben genau das nutzt, was Said in kritischer Absicht als Orientalismus bezeichnet hatte, nämlich die stereotype Konstruktion eines ideologischen Bildes „des“ Orients in westlichen Diskursen über diesen so genannten „Orient“. Mit seinem Buch „Orientalismus“ war Said einer der Diskursivitätsbegründer (wie sein Vorbild Michel Foucault es genannt hätte) der postkolonialen Theorie.

Die tiefere tragische Ironie der Geschichte besteht darin, dass diese intellektuelle Bewegung seit den 1980er Jahren auch nach Wegen suchte, Kategorien wie Hautfarbe und Ethnizität als gesellschaftliche Konstruktionen zu analysieren und damit auch immer auf eine Befreiung von rassistischen Zuschreibungen und Zumutungen hinzuwirken – ganz ähnlich, wie es der dekonstruktivistische Feminismus und die darauf aufsetzende Gender-Theorie in Bezug auf die Kategorie Geschlecht taten. Dass in Bezug auf das moralisch überhöhte, von jeder gesellschaftlichen Realität abstrahierte Stereotyp „des Palästinensers“ weite Teile des heutigen postkolonialen und queerfeministischen Diskurses (im letztgenannten Fall persönlich vertreten durch seine Vordenkerin Judith Butler) einen geistigen Bankrott anmelden, mag Konservativen Anlass zur Häme bieten – mich hingegen stimmt es traurig.

Mich macht der linke Antisemitismus in besonderer Weise wütend und traurig, weil die Enttäuschungen, die einem die „eigene“ Seite beibringt, immer am meisten weh tun; und weil hier eine Chance auf wirklich emanzipatorisches Denken und Handeln verpasst wurde und wird, die man an anderer Stelle erst gar nicht erwartet hätte. Denn das muss hier ganz unmissverständlich klargestellt werden: Antisemitismus ist weder ein exklusiv linkes noch ein migrantisch/muslimisch importiertes Thema, wie das konservative Kreise gerne sehen würden. Er war bis zum 8. Mai 1945 ein Thema der gesamtdeutschen „Mitte der Gesellschaft“ und er ist es seit dem 8. Mai 1945 geblieben.

Auch der Antisemitismus im Kulturbetrieb ist dabei nichts wirklich Neues: Prominente Gewährsleute wie der „vor Kühnheit zitternde“ Schlussstrich-Propagandist Martin Walser und der Israelkritiker Günter Grass können sich zur aktuellen Lage zwar nicht mehr zu Wort melden, sind aber möglicherweise dank ihrer leider populären Klassiker „Monumentalisierung der Schande“ und „Israel, größte Gefahr für den Weltfrieden“ noch in einschlägiger Erinnerung.

Während völkische Antisemit:innen zu ihrem Judenhass stehen, bestreiten linke und liberale Antisemit:innen in der Regel, dass sie welche seien. Ihr Glaube, sie seien qua politischer Überzeugung dagegen gefeit, sich antisemitisch (oder rassistisch) zu verhalten, führt häufig genau zum Gegenteil: weil er dazu verleitet, die eigenen Denk-, Sprech- und Handlungsweisen weniger oft kritisch zu überprüfen. Solche Selbstkritik aber ist die erste Voraussetzung dafür, menschenfeindlichen Haltungen entgegenzutreten.

Ich selbst habe zum Beispiel nach Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen über die Deportations-Planspiele von AfD, Werteunion und anderen Rechtsextremen in Potsdam bereitwillig das Schlagwort von der „Wannseekonferenz 2.0“ aufgegriffen. Es hat Monate gedauert, bis mir aufging, dass das ein antisemitischer Vergleich ist, weil er die Shoah relativiert. Denn die Pläne zur massenhaften Vertreibung von Menschen sind zwar erschreckend, aber trotzdem noch lange nicht dasselbe wie deren generalstabsmäßig geplante und industriell durchgeführte Ermordung. Diese Gleichsetzung ist genauso falsch und verwerflich wie der von Deutschen jeder Couleur betriebene Volkssport des Vergleichens von israelischer Politik mit NS-Methoden. Deshalb ist kritische Selbsthinterfragung gerade bei den Themen so wichtig, die einen moralisch am meisten entrüsten. Im besten Fall merkt man dann selbst, dass man falsch gedacht hat und sich verwerflich verhält – und hört dann eben auch auf damit.

So wie ich nun auch aufhöre, davonzulaufen. Ein letzter flüchtiger Blick auf die Frühlingssonne über dem Atlantik muss genügen. Als ich wieder in München lande, ist – nach zwei Wochen Schnee und Hagel – der Frühling nach Bayern zurückgekehrt, wie zum Hohn. Aber es ist eben nur ein meteorologischer Frühling, sonst nichts. Also mache ich mich an die Vorbereitung der nächsten Veranstaltung mit meinen Kolleg:innen von Artists Against Antisemitism. Vielleicht kaufe ich mir zwischendurch eine einzelne, traurige Nelke.

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