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Subtile Machtgefüge und schambehaftetes Begehren in Sandra Hoffmanns Roman „Jetzt bist du da“

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© Berlin Verlag

Claire liebt ihr einsames Leben im Wald. Als Pädagogin lehrt sie Schulklassen in einem Wildniscamp, wie aufmerksame Wahrnehmung das Verhältnis zur Natur verändern kann. Als jedoch nach einer Campwoche der 16-jährige Janis auf ihrem Grundstück auftaucht, werden Erinnerungen an Momente sexuellen Verlangens in ihr wach. Bilder, die sie scheut. Sandra Hoffmanns neuer Roman Jetzt bist du da (Berlin Verlag) erzählt von einem Tag und einer Nacht der Umkreisung und der Wucht menschlicher Sehnsüchte. Die Münchner Autorin Christina Madenach hat Hoffmanns Roman für uns gelesen.

 

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„Du hast mich gefunden.“

In diesem Satz auf der ersten Seite von Sandra Hoffmans Roman Jetzt bist du da schwingen bereits die drei großen Themen mit, die der Roman verhandelt: Liebe, Macht und Angst.

„Du hast mich gefunden“, denkt die 42-jährige Claire, die als Wildnispädagogin arbeitet und seit fünf Jahren allein mit ihrer Hündin Nora im Wald wohnt. Abgesehen von Nora sind Claires soziale Kontakte überschaubar. Lediglich in regelmäßigen Wildniscamps bringt Claire Kindern und Jugendlichen den Umgang mit der Natur näher. Aber Claire leidet nicht unter der Einsamkeit, im Gegenteil, sie genießt sie.

Wenn Claire also darüber nachdenkt, gefunden worden zu sein, lese ich darin ganz unterschiedliche Empfindungen: das Entsetzen darüber, dass es mit dem selbstgewählten Rückzug nun vorbei ist, aber auch das Glück darüber, auserwählt worden zu sein, und vielleicht noch etwas ganz anderes, nämlich die Scham darüber, entdeckt – im Sinne von erwischt – worden zu sein.

Bei dem angesprochenen Du handelt es sich um den 16-jährigen Janis, den Claire sieben Wochen zuvor als Pädagogin im Wildniscamp angeleitet hat und der nun unangemeldet vor ihrem Haus steht. Im Folgenden setzt sich der Roman mit der gegenseitigen Anziehung der beiden Protagonist*innen auseinander.

Schon der Altersunterschied an sich ist ein spannendes Thema – noch dazu in der nach wie vor eher untypischen Rollenverteilung mit der Frau als der Älteren –, doch vor allem die Minderjährigkeit von Janis und die damit auch rechtliche Grenzüberschreitung machen den Roman so brisant. Sexuelle Handlungen mit Jugendlichen sind zwar im Gegensatz zu denen mit Kindern nicht per se strafbar, doch es gibt eine Einschränkung: wenn es sich bei den Jugendlichen um Schutzbefohlene handelt (z.B. Schüler*innen). Weil Claire sieben Wochen zuvor in der Rolle als Pädagogin Janis kennengelernt hat, könnte es sich um so einen Fall handeln.

Sexuelle Grenzüberschreitungen spielen in dem Roman von Sandra Hoffmann auf mehreren Ebenen eine Rolle. Neben der Situation zwischen Claire und Janis geht es in Rückblicken – häufig markiert durch den Einschub „Bilder“ (an diesen Stellen hätte ich mir eine elegantere Überleitung in die Erinnerungen gewünscht) – um Situationen, in denen Claire als Mädchen, Jugendliche und erwachsene Frau auf sexuell übergriffige Männer getroffen war. Interessant sind dabei zwei Dinge: Bei den Männern handelte es sich meistens um ältere, die in einem Betreuungsverhältnis zu Claire standen (Sporttrainer, Arzt, Lehrer, Vater), und häufig war es Claire selbst, die diese Begegnungen suchte und damit ihr Gegenüber unter Zugzwang setzte. Auch in der Begegnung zwischen Claire und Janis geht es um diese Verschiebung. Claire befindet sich zwar als Erwachsene und Pädagogin in der eigentlich mächtigeren Position, doch ist es Janis, der in ihre Privatsphäre eindringt und sich auch seiner Wirkung auf Claire ganz bewusst ist – so wie es andersherum Claire in ihrer Vergangenheit gegenüber ihren Betreuungspersonen war.

Die Frage nach den Machtverhältnissen wird auch in dem formalen Aufbau und der Erzählperspektive von Jetzt bist du da gespiegelt. Während im ersten und letzten Teil ganz klar die personale Perspektive der Ich-Erzählerin Claire eingenommen wird, bin ich im zweiten (längsten) Teil des Romans zunächst über den Perspektivwechsel gestolpert. Wir befinden uns zwar teilweise weiterhin in Claires Kopf – auch wenn nun die Ich-Erzählerin durch eine Sie-Erzählerin ausgewechselt wird –, aber diese Perspektive wechselt (mehr oder weniger jeden Absatz) mit der von Janis. Es gibt sozusagen zwei personale Perspektiven, wodurch der Eindruck entsteht, einem gedanklichen Zwiegespräch – zusätzlich zu den Dialogen in wörtlicher Rede – zu lauschen. Das hat durchaus seinen Reiz, auch wenn der Schwerpunkt eindeutig auf Claires Perspektive liegt: Ihre Passagen sind die längeren (plus ihre Perspektive als Ich-Erzählerin im Anfangs- und Schlusskapitel). Aus zwei Gründen ist das naheliegend: Einerseits ist Claire die spannendere – weil zweifelnde – Figur; hin- und hergerissen zwischen ihrem Begehren und der Verantwortung, die sie Janis gegenüber trägt; andererseits wird dadurch der Blick der Leserin vorwiegend durch sie gelenkt und damit ihre Machtposition unterstrichen. Für mich stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob dann die Perspektive von Janis für den Roman unbedingt nötig gewesen wäre (auch weil eine sprachliche Absetzung nicht durchgängig vollzogen ist).

Der formale Aufbau des Romans ist aber nicht nur hinsichtlich der Machtverhältnisse spannend. Auch in Bezug auf die Liebe spielt die Bedeutung der Perspektive und des Blicks eine wichtige Rolle. Bereits der Satz „Du hast mich gefunden“ führt das Gesehen- und das Gewolltwerden eng. An einer anderen Stelle wird es expliziter: „Sie [Claire] hat ihn [Janis] gesehen, und das Begehren war da.“ Und auch andersherum funktioniert die Gleichsetzung von Begehren und Sehen: „Er [Janis] weiß nicht, was zuerst da war, dass er Claire gut fand, oder dass er wollte, dass sie ihn gut fand, vielleicht geschah das auch gleichzeitig, jedenfalls sah er irgendwann nur noch Claire.“

Dass mit dem liebenden Blick, der auch einverleibend sein kann, wiederum Dominanzverhältnisse anklingen, ist nur konsequent.

Im Zusammenhang mit der Liebe hat der Blick noch eine andere Bedeutung. Als Claire Janis das erste Mal sieht, erinnert er sie an jemanden. Meine erste Annahme, dass er Claire an sie selbst erinnert, wird durch die Beschreibung der verschwimmenden Geschlechtergrenzen verstärkt. Ihr jugendliches Ich beschreibt Claire als einen als „Junge getarnten Mädchenkörper“, Janis wirkt dagegen auf sie wie ein „knabenhaftes Mädchen“. Es ist dann allerdings ihre Jugendfreundin Frida, an die Claire Janis erinnert. Doch Frida ist wiederum die Person, in der sich Claire gern gespiegelt hat: „Frida, das bin ich, wie ich gern wäre […].“

Bedeutet also Claires Liebe für Janis, dass sie gern so wäre wie er? Und wenn Janis sich vorstellt, wie sein und Claires Körper zu einem verschmelzen, will er wie Claire sein oder sogar zu Claire werden und ist das Liebe?

Der Blick in Hoffmanns Roman ist noch an eine dritte Sache geknüpft: die Naturbeobachtung. Schon das Setting im Wald erinnert an Henry Thoreaus Roman Walden, in dem er sein Leben im Wald beschreibt. Doch vor allem die Wahrnehmung der Natur spielt sowohl in diesem als auch in Hoffmanns Text eine wichtige Rolle. Nicht umsonst handelt es sich bei Walden um einen der ersten Texte, die man dem Nature Writing zuordnet, und auch Sandra Hoffmann habe ich bereits vor Lektüre des Romans mit dem Begriff des Nature Writing in Verbindung gebracht. Die Beobachtung und Wertschätzung der Natur sind für sich genommen bereits ein wichtiger Teil des Romans – an ein paar wenigen Stellen empfinde ich Claire zwar als zu belehrend, aber vielleicht ist das einfach auch Teil dieser Figur –; sie lassen sich aber auch in Bezug zu den anderen Inhalten des Romans lesen.

Eine Analogie tritt bei der Gegenüberstellung von Begehren und Vernunft auf. Während Janis der Begegnung mit Claire am liebsten einfach ihren freien Lauf lassen würde, hält Claire dagegen und begründet es mit der Verantwortung, die sie trägt. In einem Gespräch über Biber, die durch ihr Nagen alten Baumbestand zerstören, sind die Positionen ähnlich: „Du [Janis] denkst, man muss Tiere einfach tun lassen, was sie wollen, sagt sie [Claire]. // Ja, ist Natur. Er [Janis] nickt.“ Während Claire der Meinung ist, „dass man der Natur nicht alles durchgehen lassen darf.“

Eine weitere Analogie ist in Bezug auf Fremdheit und Überforderung, die der Wald mit sich bringt, zu erkennen. Denn die Angst, die der Wald hervorruft, bezieht sich nach Claire vor allem auf das Irreale. „Ihr müsst vor dem Wald weniger Angst haben als vor eurer Fantasie“, sagt sie zu Beginn des Wildniscamps. Ähnlich verhält es sich mit ihrer Angst vor dem, was zwischen ihr und Janis passieren könnte. An einer Stelle denkt sie: „Ich möchte nicht von dir [Janis] träumen.“ Trägt sie bereits durch die bloße Fantasie Schuld? An einer anderen Stelle heißt es: „Ich [Claire] habe Angst vor dir [Janis]. Deinetwegen habe ich Angst vor mir selbst.“ Mit der Möglichkeit von Schuld geht ihre Scham einher.

Auf einer dritten Ebene steht die Schönheit der Natur mit einem starken Gefühl des Moments in Zusammenhang. Auch wenn nicht klar ist, wie das Treffen zwischen Claire und Janis enden wird, erleben sie diesen einen Nachmittag und Abend gemeinsam, und er wird zumindest in ihrer Erinnerung vorhanden sein. Der Titel des Romans Jetzt bist du da spielt auf die Erfahrung des Moments an und gleichzeitig impliziert er auch seine Zukunft: „Du [Janis] wirst da gewesen sein! Auch wenn du gehen wirst, wirst du da gewesen sein. Du wirst Spuren hinterlassen haben, auch wenn sie noch so unsichtbar sind.“

Die Zeitspanne, über die sich der Roman erstreckt, ist kurz (vom Nachmittag des ersten Tages bis zum Morgen des nächsten Tages), der Ort begrenzt (Claires Haus und der umliegende Wald) und das Personal überschaubar (neben Claire und Janis gibt es nur wenige weitere Figuren, die keine größere Rolle spielen und vor allem nicht aktiv in Erscheinung treten). Die Sprache, in der der Roman gehalten ist, ist einfach und prägnant. Trotz äußerer Schlichtheit sind die Themen des Romans, an dessen Ende eine schwerwiegende Entscheidung ansteht, von großer Relevanz. Und egal, wie Claire sich entscheiden wird – das will ich natürlich nicht spoilern –, muss sie sich entscheiden. Eine gute Lösung scheint es nicht zu geben, nur die am wenigsten schlechte. Diese Erkenntnis ist bitter, aber auch sehr ehrlich, und diese Ehrlichkeit rechne ich Sandra Hoffmanns Roman hoch an.

 

Sandra Hoffmann: Jetzt bist du da. Roman. Berlin Verlag, München 2023, 240 S., EAN 978-3-8270-1494-8, € 24,00.

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