Carry Brachvogel
Carry Brachvogel wird als Tochter des jüdischen Kaufmanns Heinrich Hellmann und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Zerlinda Karl-Hellmann geboren. Zusammen mit ihrem Bruder Siegmund wächst sie in der Münchener Residenzstraße auf, bis die Familie schließlich ein Haus an der Brienner Straße bezieht.
Schon früh verspürt sie den Drang nach künstlerischer Betätigung. Nach einer standesgemäßen Erziehung zur höheren Tochter heiratet sie 1887 den katholisch-schlesischen Schriftsteller und Journalisten Wolfgang Brachvogel, der Redakteur bei den Münchner Neuesten Nachrichten ist. 1888 wird die gemeinsame Tochter Fedora geboren, ein Jahr darauf Sohn Heinz-Udo. Während Fedora religionslos bleibt, wird Heinz-Udo nach dem Vater römisch-katholisch getauft.
1892 stirbt Carry Brachvogels Ehemann. Sie selbst beginnt zu schreiben und veröffentlicht 1895 ihren ersten Roman Alltagsmenschen. Durch Vermittlung von Ernst von Wolzogen wird ihr Manuskript vom renommierten S. Fischer Verlag übernommen. Alltagsmenschen schildert das Schicksal einer jungen Frau, die trotz größter Bemühungen an der traditionellen Rolle als Ehefrau scheitert und sich aus Langeweile auf eine außereheliche Beziehung einlässt. Schwanger vom Liebhaber muss sie alles ihrem Mann gestehen und ein unerfülltes Leben an der Seite des ungeliebten Gatten führen.
Die Frage nach dem Ausweg für eine Frau aus ihrer vorgeprägten gesellschaftlichen Rolle beschäftigt Carry Brachvogel auch in ihrem Novellenband Der Erntetag (1897). Das Buch wird wie der erste Roman wohlwollend von der Kritik aufgenommen, Brachvogels „scharfer Blick, ihre unumwundene Offenheit“ bewundert. Der Kampf um die Emanzipation der Frau dominiert zunehmend ihr Werk und Leben. 1901 erscheint ihr nächster Roman Die große Pagode, worin sie die Ausbeutung Münchener Schauspielerinnen anprangert. Vom S. Fischer Verlag trennt sie sich, nachdem dieser sie „in höflicher aber unverkennbarer Form“ vor die Tür gesetzt hat.
Als Feuilletonistin für die Wiener Zeit schreibt Carry Brachvogel von nun an Texte voller Witz, Ironie, aber auch Sympathie für das Subjekt. In München dagegen kämpft sie weiterhin mit spitzer Feder gegen das überkommene Frauenbild an, indem sie Münchener Kellnerinnen oder Trambahnschienen-Putzerinnen bei ihrer Arbeit beschreibt. Diese Texte werden zusammengefasst in dem Band Im weiß-blauen Land – eine Liebeserklärung an ihre bayerische Heimatstadt.
1903 ist Carry Brachvogel Mitglied im Verein für Fraueninteressen, dem auch männliche Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke und Ernst von Wolzogen angehören. Obwohl sie nicht so radikal wie beispielweise Anita Augspurg ist, kann sie so einiges bewegen und wird zehn Jahre später in den Vorstand des Vereins gewählt. Ihre Forderung nach einem neuen Selbstverständnis der Frau untermauert sie u.a. in dem Vortrag Hebbel und die moderne Frau, den sie 1912 dort hält.
Die Beschäftigung mit Frauengestalten aus der Geschichte bringt sie schon früh auf die Idee, historische Romane zu verfassen. Aufgrund ihres schriftstellerischen Erfolgs und ihres Einsatzes für die Rechte der Frau gehört Brachvogel zu den herausragenden Frauengestalten Münchens. Ihr Salon lockt „sowohl Einheimische als [auch] zugereiste Gäste an den Teetisch am Siegestor“. Bis in die 30er-Jahre bleibt ihr Haus ein Ort des kulturellen wie politischen Gedankenaustausches.
Gemeinsam mit Emma Haushofer-Merk gründet sie den Verein Münchner Schriftstellerinnen. Ziel ist es, ein Netzwerk für schreibende Frauen zu bilden und auf deren schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Prominente Mitglieder des Vereins sind z.B. Ricarda Huch, Elsa Bernstein oder auch Annette Kolb.
1920 publiziert Carry Brachvogel die Schrift Eva in der Politik, in der sie die historische Entwicklung der Frau in der Politik nachzeichnet: „Der Staat ist eine Schöpfung des Mannes. Männer haben ihn ausgedacht, haben ihn aufgebaut, haben seine Grenzen gezogen, seine Gesetze bestimmt, haben ihn mit Krieg belastet oder mit Werken des Friedens beglückt. [...] Die Frau, die den Staatsgedanken nicht ausdachte, hat auch, nach dem Gebot der Männer, an seinem Ausbau keinen Anteil haben dürfen.“ Die Fragen, die sie stellt, sind unbequem und stoßen teilweise auf Unverständnis.
Nach dem Tod von Emma Haushofer-Merk wird Brachvogel Erste Vorsitzende des Vereins Münchner Schriftstellerinnen. Der Einfluss der nationalsozialistischen Bewegung macht allerdings auch vor dem Verein nicht Halt. Am 3. Mai 1933 treffen sich einige Mitglieder und beschließen Carry Brachvogels Rücktritt. Daraufhin wird der Verein aufgelöst, Brachvogel mit einem Publikationsverbot belegt.
Von nun an lebt sie zurückgezogen in der Herzogstraße 55. Ihr Bruder Siegmund zieht zu ihr, am 22. Juli 1942 werden beide Geschwister auf einen Transport nach Theresienstadt geschickt. Während ihrer Deportation ist Carry Brachvogel 78 Jahre alt. Gezeichnet von den Entbehrungen und Demütigungen der letzten Jahre, unter verheerenden hygienischen Zuständen, stirbt sie nur vier Monate nach ihrer Ankunft im KZ am 20. November 1942.
Ein Damenzimmer in der Münchener Seidlvilla („Carry-Brachvogel-Salon“) erinnert an die Dichterin und Frauenrechtlerin, die rund 39 eigene Werke und fünf Übersetzungen hinterlassen hat.
Sekundärliteratur:
Karl, Michaela (2008): Bayerische Amazonen. Zwölf Frauenporträts aus zwei Jahrhunderten. Piper Verlag, München.
Pedarnig, Dietlind; Ziegler, Edda (Hg.) (2013): Bayerische Schriftstellerinnen. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 78-83.
Richardsen, Ingvild (2013): Carry Brachvogels Alltagsmenschen (1895). In: Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Text der Erstausgabe von 1895. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 155-175.
Dies. (2013): Wer war Carry Brachvogel? In: Carry Brachvogel: Im Weiß-Blauen Land. Bayerische Bilder. Text der Erstausgabe von 1923. Hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 121-150.
Dies. (2014): Carry Brachvogels Der Kampf um den Mann (1910). In: Carry Brachvogel: Der Kampf um den Mann. Text der Erstausgabe von 1910. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 215-249.
Dies. (2014): Carry Brachvogels Schwertzauber (1917). In: Carry Brachvogel: Schwertzauber. Text der Erstausgabe von 1917. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 132-162.
Dies. (2014): Warum ist Carry Brachvogel (1864-1942) heute vergessen? Carry Brachvogel – eine berühmte Münchner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ein vergleichender Blick auf Franziska von Reventlow (1871-1918). In: Karg, Ina; Jessen, Barbara (Hg.): Kanon der Literaturgeschichte. Facetten einer Diskussion (Germanistik, Didaktik, Unterricht, 12). Peter Lang, Frankfurt am Main u.a., S. 299ff.
Externe Links:
Literatur von Carry Brachvogel im BVB
Carry Brachvogel wird als Tochter des jüdischen Kaufmanns Heinrich Hellmann und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Zerlinda Karl-Hellmann geboren. Zusammen mit ihrem Bruder Siegmund wächst sie in der Münchener Residenzstraße auf, bis die Familie schließlich ein Haus an der Brienner Straße bezieht.
Schon früh verspürt sie den Drang nach künstlerischer Betätigung. Nach einer standesgemäßen Erziehung zur höheren Tochter heiratet sie 1887 den katholisch-schlesischen Schriftsteller und Journalisten Wolfgang Brachvogel, der Redakteur bei den Münchner Neuesten Nachrichten ist. 1888 wird die gemeinsame Tochter Fedora geboren, ein Jahr darauf Sohn Heinz-Udo. Während Fedora religionslos bleibt, wird Heinz-Udo nach dem Vater römisch-katholisch getauft.
1892 stirbt Carry Brachvogels Ehemann. Sie selbst beginnt zu schreiben und veröffentlicht 1895 ihren ersten Roman Alltagsmenschen. Durch Vermittlung von Ernst von Wolzogen wird ihr Manuskript vom renommierten S. Fischer Verlag übernommen. Alltagsmenschen schildert das Schicksal einer jungen Frau, die trotz größter Bemühungen an der traditionellen Rolle als Ehefrau scheitert und sich aus Langeweile auf eine außereheliche Beziehung einlässt. Schwanger vom Liebhaber muss sie alles ihrem Mann gestehen und ein unerfülltes Leben an der Seite des ungeliebten Gatten führen.
Die Frage nach dem Ausweg für eine Frau aus ihrer vorgeprägten gesellschaftlichen Rolle beschäftigt Carry Brachvogel auch in ihrem Novellenband Der Erntetag (1897). Das Buch wird wie der erste Roman wohlwollend von der Kritik aufgenommen, Brachvogels „scharfer Blick, ihre unumwundene Offenheit“ bewundert. Der Kampf um die Emanzipation der Frau dominiert zunehmend ihr Werk und Leben. 1901 erscheint ihr nächster Roman Die große Pagode, worin sie die Ausbeutung Münchener Schauspielerinnen anprangert. Vom S. Fischer Verlag trennt sie sich, nachdem dieser sie „in höflicher aber unverkennbarer Form“ vor die Tür gesetzt hat.
Als Feuilletonistin für die Wiener Zeit schreibt Carry Brachvogel von nun an Texte voller Witz, Ironie, aber auch Sympathie für das Subjekt. In München dagegen kämpft sie weiterhin mit spitzer Feder gegen das überkommene Frauenbild an, indem sie Münchener Kellnerinnen oder Trambahnschienen-Putzerinnen bei ihrer Arbeit beschreibt. Diese Texte werden zusammengefasst in dem Band Im weiß-blauen Land – eine Liebeserklärung an ihre bayerische Heimatstadt.
1903 ist Carry Brachvogel Mitglied im Verein für Fraueninteressen, dem auch männliche Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke und Ernst von Wolzogen angehören. Obwohl sie nicht so radikal wie beispielweise Anita Augspurg ist, kann sie so einiges bewegen und wird zehn Jahre später in den Vorstand des Vereins gewählt. Ihre Forderung nach einem neuen Selbstverständnis der Frau untermauert sie u.a. in dem Vortrag Hebbel und die moderne Frau, den sie 1912 dort hält.
Die Beschäftigung mit Frauengestalten aus der Geschichte bringt sie schon früh auf die Idee, historische Romane zu verfassen. Aufgrund ihres schriftstellerischen Erfolgs und ihres Einsatzes für die Rechte der Frau gehört Brachvogel zu den herausragenden Frauengestalten Münchens. Ihr Salon lockt „sowohl Einheimische als [auch] zugereiste Gäste an den Teetisch am Siegestor“. Bis in die 30er-Jahre bleibt ihr Haus ein Ort des kulturellen wie politischen Gedankenaustausches.
Gemeinsam mit Emma Haushofer-Merk gründet sie den Verein Münchner Schriftstellerinnen. Ziel ist es, ein Netzwerk für schreibende Frauen zu bilden und auf deren schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Prominente Mitglieder des Vereins sind z.B. Ricarda Huch, Elsa Bernstein oder auch Annette Kolb.
1920 publiziert Carry Brachvogel die Schrift Eva in der Politik, in der sie die historische Entwicklung der Frau in der Politik nachzeichnet: „Der Staat ist eine Schöpfung des Mannes. Männer haben ihn ausgedacht, haben ihn aufgebaut, haben seine Grenzen gezogen, seine Gesetze bestimmt, haben ihn mit Krieg belastet oder mit Werken des Friedens beglückt. [...] Die Frau, die den Staatsgedanken nicht ausdachte, hat auch, nach dem Gebot der Männer, an seinem Ausbau keinen Anteil haben dürfen.“ Die Fragen, die sie stellt, sind unbequem und stoßen teilweise auf Unverständnis.
Nach dem Tod von Emma Haushofer-Merk wird Brachvogel Erste Vorsitzende des Vereins Münchner Schriftstellerinnen. Der Einfluss der nationalsozialistischen Bewegung macht allerdings auch vor dem Verein nicht Halt. Am 3. Mai 1933 treffen sich einige Mitglieder und beschließen Carry Brachvogels Rücktritt. Daraufhin wird der Verein aufgelöst, Brachvogel mit einem Publikationsverbot belegt.
Von nun an lebt sie zurückgezogen in der Herzogstraße 55. Ihr Bruder Siegmund zieht zu ihr, am 22. Juli 1942 werden beide Geschwister auf einen Transport nach Theresienstadt geschickt. Während ihrer Deportation ist Carry Brachvogel 78 Jahre alt. Gezeichnet von den Entbehrungen und Demütigungen der letzten Jahre, unter verheerenden hygienischen Zuständen, stirbt sie nur vier Monate nach ihrer Ankunft im KZ am 20. November 1942.
Ein Damenzimmer in der Münchener Seidlvilla („Carry-Brachvogel-Salon“) erinnert an die Dichterin und Frauenrechtlerin, die rund 39 eigene Werke und fünf Übersetzungen hinterlassen hat.
Karl, Michaela (2008): Bayerische Amazonen. Zwölf Frauenporträts aus zwei Jahrhunderten. Piper Verlag, München.
Pedarnig, Dietlind; Ziegler, Edda (Hg.) (2013): Bayerische Schriftstellerinnen. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 78-83.
Richardsen, Ingvild (2013): Carry Brachvogels Alltagsmenschen (1895). In: Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Text der Erstausgabe von 1895. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 155-175.
Dies. (2013): Wer war Carry Brachvogel? In: Carry Brachvogel: Im Weiß-Blauen Land. Bayerische Bilder. Text der Erstausgabe von 1923. Hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 121-150.
Dies. (2014): Carry Brachvogels Der Kampf um den Mann (1910). In: Carry Brachvogel: Der Kampf um den Mann. Text der Erstausgabe von 1910. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 215-249.
Dies. (2014): Carry Brachvogels Schwertzauber (1917). In: Carry Brachvogel: Schwertzauber. Text der Erstausgabe von 1917. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen (edition monacensia). Allitera Verlag, München, S. 132-162.
Dies. (2014): Warum ist Carry Brachvogel (1864-1942) heute vergessen? Carry Brachvogel – eine berühmte Münchner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ein vergleichender Blick auf Franziska von Reventlow (1871-1918). In: Karg, Ina; Jessen, Barbara (Hg.): Kanon der Literaturgeschichte. Facetten einer Diskussion (Germanistik, Didaktik, Unterricht, 12). Peter Lang, Frankfurt am Main u.a., S. 299ff.